17. Juni 1953

Abgeordnetenhaus von Berlin

»Manchmal muss es 50 Jahre dauern«
Rede der Abg. Marion Seelig in der 32. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin


Aktuelle Stunde »50 Jahre nach dem 17. Juni 1953 – Berlin gedenkt der Ereignisse«

[ Aus dem Wortprotokoll. ]

Frau Seelig (PDS):

 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, bis zu der Rede von Herrn Henkel hatte diese Veranstaltung sehr viel Sinn, weil wir uns gemeinsam dazu in diesem Haus verständigen konnten, was uns heute nach 50 Jahren der 17. Juni bedeutet. Sie haben hier Behauptungen aufgestellt, die gänzlich jedes Hintergrunds entbehren, beispielsweise kein einziges Zitat aus dem Papier der Historischen Kommission der PDS gebracht. Gerade dort wird sehr ernsthaft das vorliegende Material ausgewertet. Und es kommt für diese Partei zu überraschenden neuen Ergebnissen, die keineswegs von allen so goutiert werden, die aber tatsächlich einen Riesenschritt nach vorne in der politischen Beurteilung darstellen.

Zum Thema SED-Unrechtsbereinigungsgesetz: Die ersten beiden Fassungen sind unter der Ägide von Kohl entstanden, und sie sind so mangelhaft, wie sie sind. Sie hätten ausreichend Gelegenheit gehabt, sich den Opfern in einer anderen Art und Weise anzunähern, als sie es zu ihrer Regierungszeit getan haben. Das gilt übrigens auch für die große Koalition, in der Sie die stärkste Fraktion gestellt haben. Sie hätten alle Zeit und alle Gelegenheit der Welt gehabt, Ihren Willen kundzutun, vernünftige Gesetze für die Opfer ins Leben zu rufen.

[Beifall bei der PDS
Vereinzelter Beifall bei der SPD und den Grünen]

Manchmal muss es 50 Jahre dauern, bis ein Ereignis zur lebendigen Erinnerung wird. Zuvor hatte es keine Chance unter der Last der Verteufelung und Verunglimpfung auf der einen Seite und der Last eines anlassvergessenen sonnigen Feiertags auf der anderen Seite, zu einem wahrhaft historischen Ereignis zu werden. Der November 1989 hat die Sicht auf den Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in seiner Gänze möglich gemacht. Das ist nicht so, weil ich glaube, dass das eine deutliche Kontinuität ist, dass sich die Opposition in der DDR auf diesen Tag bezogen hat, ich erinnere an den Satz von Wolf Biermann, der 17. Juni sei schon ein sozialistischer Arbeiteraufstand, aber noch eine faschistische Erhebung gewesen. Ich glaube, diese Ambivalenz ist eher typisch für die intellektuelle Opposition der 70er und 80er Jahre in der DDR. Die Arbeiter in der DDR – so war jedenfalls mein Eindruck – hätten auch gerne einen Feiertag im Sommermonat Juni gehabt, aber viel mehr an Erinnerung war nicht.

Die persönlichen Erlebnisse von Verwandten waren auch ambivalent, nicht nur, weil – wie gestern in der Veranstaltung hier geschildert – ihre Erlebnisse von urbanen Legenden geprägt waren, man glaubte, ein Ereignis sei wahr und bewiesen, bloß weil es überall erzählt wurde, sondern es auch von Augenzeugen je nach politischer Einstellung so oder so gesehen worden war. Damit meine ich nicht die Wertungen, die naturgemäß unterschiedlich ausfallen, sondern die Behauptung, die Wahrheit gesehen zu haben. Die erste objektive Wahrheit, die mir begegnete, war in den 60er Jahren der Vater meiner besten Freundin, der nach 12 Jahren aus dem Zuchthaus kam. Ich wusste vorher nicht, dass sie einen Vater gehabt hatte.

Ich sehe also die gerade Linie von 1953 bis 1989 nicht, sondern der Herbst 1989 war für den Moment die Emanzipation der DDR-Bürgerinnen und ‑Bürger und deshalb der Ausgangspunkt für eine neue Sicht auf den 17. Juni. Sie haben sich von ihrem vormundschaftlichen Staat befreit, für dessen Funktionäre ein Arbeiteraufstand in ihrem Einflussbereich nur von Faschisten fremdbestimmt sein konnte, denn sie waren ja höchstpersönlich die Arbeitermacht. Sie haben sich aber auch von den fürsorglichen Sonntagsreden für die armen Brüder und Schwestern in der Ostzone befreit und könnten den 17. Juni als ihre Leistung und ihre Geschichte annehmen. Ich wünschte, sie würden es tun. – Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass Mitglieder der SED sowohl Streikführer waren als auch an der Niederschlagung des Aufstands beteiligt waren. An einen dieser Streikführer, Heinz Brandt, ist ja erinnert worden. In der Folge des 17. Junis sind Tausende Menschen aus der Partei ausgeschlossen worden.

Die lebendige Erinnerung haben viele Menschen in den letzten Wochen auch in drei Fernsehfilmen über den 17. Juni erfahren. Es stützt meine These, dass es Zeit und eines tiefer gehenden Blickes bedarf, dass diese drei unterschiedlichen Filme auf ihre Art – ich will sie nicht ästhetisch bewerten – alle gut waren, weil sie den Aufständischen der DDR einen aktiven und würdigen Platz zuweisen, ihnen ein Gesicht geben und den Akteuren des kalten Krieges auf ihre Weise Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es ist ebenso historische Wahrheit, dass der amerikanische Hochkommissar mit den Worten, ob RIAS den dritten Weltkrieg beginnen wolle, die Sendung über den Arbeiteraufstand unterbindet, wie auch die Skepsis des sowjetischen Generals gegenüber dem Ulbricht-Regime und die anfängliche Weigerung, mit seinen Truppen dieses Regime zu unterstützen. Gefangene ihrer Interessen waren beide Großmächte, und ein Arbeiteraufstand im sowjetischen Einflussbereich war nicht eingeplant, die Möglichkeit nicht einmal geahnt.

Wir haben gestern im Berliner Abgeordnetenhaus eine interessante Veranstaltung, auf die hier viele eingegangen sind, mit der Birthler-Behörde und der Körber-Stiftung gehabt, mit Zeitzeugen und Filmemachern, mit Historikern und Politikern, die eines deutlich gemacht hat: dass es 50 Jahre nach dem Aufstand der DDR-Arbeiter die Chance gibt, ihre Leistung jenseits von parteipolitischer Vereinnahmung als das zu würdigen, was sie ist: ein historisches Ereignis, das neben den sozialen Rechten auch die Freiheit einklagte, das aus meiner Sicht zu seiner Zeit allerdings nur scheitern konnte. Dr. Wolf Schmidt von der Körber-Stiftung sagte sinngemäß, es gebe keinen Grund von einer Westbiographie aus besserwisserisch den DDR-Bürgerinnen und ‑Bürgern ihre Geschichte zu erklären. Dann ist es auch an uns, diesen Tag als unseren Beitrag zur gemeinsamen Geschichte zu verstehen. – Danke schön!

[Beifall bei der PDS und der SPD
Vereinzelter Beifall bei den Grünen]