Gute Arbeit verlangt auch neue Arbeit

Impulsbeitrag von Heidi Knake-Werner

Wenn wir heute über gute Arbeit in Berlin diskutieren, dann müssen wir uns zunächst mit dem beschäftigen was ist. Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis hat in den letzten Jahrzehnten erheblich an Bedeutung verloren. An seine Stelle ist eine Fülle unterschiedlicher Formen prekärer Beschäftigungen getreten.
Erst in der vergangenen Woche veröffentlichte das Institut für Arbeit und Qualifikation eine aktuelle Studie zur Entwicklung des Niedriglohnsektors. Die Zahlen sind alarmierend: 6,5 Millionen Menschen arbeiten inzwischen für Niedriglöhne. Also für Einkommen, die unter dem anerkannten Existenzminimum liegen. Das waren bei der letzten Erhebung im Osten durchschnittlich 5,43 Euro und im Westen 7,12 Euro – das sind Dumpinglöhne von denen kein Mensch leben kann.
Erschreckend ist nicht nur, dass bereits jeder fünfte Beschäftigte einen Niedriglohn bezieht (Deutschland an 2. Stelle hinter USA), sondern, dass der Anteil auch dramatisch zunimmt, seit 1995 ist er um 43% gestiegen.
Der wirtschaftliche Aufschwung hat daran wenig geändert, wie schon in den letzten Jahren ist in Berlin der stärkste Beschäftigungszuwachs bei der Leiharbeit zu verzeichnen - allein in den Jahren von 2003 bis 2006 um 111% - mit Lohneinbußen heute von durchschnittlich 29%.
Das alles verdanken wir auch den Hartz-Gesetzen und der sogenannten Modernisierung am Arbeitsmarkt. Doch das war keine Modernisierung, liebe Genossinnen und Genossen, das war ein Rückfall ins 19. Jahrhundert, den Millionen Menschen mit dem Verlust von Einkommen und sozialer Sicherheit bezahlt haben.

Das gilt nicht nur für die Erwerbslosen. Auch die Beschäftigten akzeptieren zunehmend die miesesten Bedingungen, wenn als Alternative Alg II droht – Ängste vor dem sozialen Abstieg reichen bis in die Mitte der Gesellschaft.
Das zeigt sich auch an folgendem: In Berlin haben wir nicht nur die meisten Bedarfsgemeinschaften, wir haben auch 87.000 sogenannte Aufstocker. Im Klartext Erwerbstätige, die von ihrem Job nicht leben können und ergänzend Sozialleistungen brauchen.
Berlin ist von prekärer Beschäftigung in besonderer Weise betroffen, weil die Brüche und Umbrüche seit dem Mauerfall ohnehin für viele Menschen mit Ausgrenzung, Chancenlosigkeit und prekären Arbeits- und Lebensbedingungen verbunden waren.
Die Hartz-Gesetze haben diese Situation verschärft.
Hier gegenzusteuern ist für den Senat eine besondere Herausforderung, die wir in vielfacher Hinsicht auch annehmen. Aber –das will ich an dieser Stelle auch sagen „mit Hartz IV muss weg“ ist es dabei nicht getan.
Harz IV ist ja nicht die Ursache für diesen Rückfall in frühkapitalistische Verhältnisse, sondern die Hartz-Gesetze sind lediglich die unverschämte und menschenfeindliche Art und Weise wie hierzulande versucht wurde, den Umbruch der Industriegesellschaften auf Kosten der abhängig Beschäftigten zu bewältigen.
Wir müssen also zwei Fragen beantworten, wenn wir Hartz IV überwinden wollen. Erstens: was ist das für ein Umbruch mit dem wir
es zu tun haben.
Und zweitens: Was können wir tun, diesem Umbruch der Industriegesellschaften einen sozial verträglichen Weg zu bahnen.
Ein entscheidendes Schlüsselwort für den genannten Umbruch heißt „Dienstleistungsgesellschaft“. Je produktiver nämlich die industrielle Produktion, desto schneller wächst der Bedarf an Dienstleistungen.
Zum Beispiel für Logistik, Informationsverarbeitung und Transport, aber auch für Service oder Überwachungstätigkeiten.
Man kann sagen, dass für jeden in der Produktion wegfallenden Arbeitsplatz ein neuer im Dienstleistungssektor benötigt wird.

Aber Genossinnen und Genossen
die neoliberale Politik hat es mit sich gebracht, dass diese Dienstleistungsarbeit als Experimentierfeld für Teilzeit, Leiharbeit, Befristung, Lockerung des Kündigungsschutzes und vor allem für Lohndumping genutzt wurde. Dies gilt für die industrienahen Branchen, viel mehr noch für alle Dienstleistungsbereiche Berlins. Hier handelt es sich um typische Frauenbranchen mit einem Frauenanteil von über 60%, wie z.B. die Altenpflege mit Fachkräftevergütungen unter 8 €. 
Deshalb unsere Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn und gemeinsam mit der Bundestagsfraktion kämpfen wir für eine menschenwürdige Arbeitswelt. Für die LINKE muss das der Schwerpunkt sein, wenn wir eine andere, eine sozialere Gesellschaft wollen.
Genossinnen und Genossen
Der Übergang zu einer Wirtschaftsweise, die immer mehr  Dienstleistungen benötigt, verändert aber nicht nur die private Wirtschaft, sondern stellt auch höhere Anforderungen an die öffentliche Daseinsvorsorge, weil der Wandel der Produktivkräfte auch von den Menschen verlangt, dass sie flexibler und mobiler werden.
Das hat einen hohen Preis und wird mit neuen Gesundheitsrisiken bezahlt, hat die Auflösung sozialer Strukturen zur Folge, führt zur Vereinzelung und drängt immer mehr Menschen ins Abseits, weil sie dem Tempo der permanenten Veränderungen aus unterschiedlichsten Gründen nicht folgen können. Gerade vor ein paar Tagen wurden aktuelle Zahlen über die zunehmende Erkrankung von Beschäftigten veröffentlicht: Überlastung, Mangel an sozialer Anerkennung, schlechtes Arbeitsklima, Unsicherheit werden als Hauptgründe für hohe Erkrankungsraten genannt.

Und hier Genossinnen und Genossen
erweist sich wie irreführend der Begriff Dienstleistungsgesellschaft ist. Denn nur die wirtschaftlichen Umbrüche haben völlig neue Dienstleistungssektoren geschaffen, während die gesellschaftlichen Umbrüche auf eine Dienstleistungswüste stoßen.
-Wir müssen uns ja nur in unserem Alltag umschauen-
Überall, wo Dienstleistungen keinen Profit abwerfen und von der Allgemeinheit oder der Solidargemeinschaft finanziert werden müssen, registrieren wir Verschlechterungen und dramatische Defizite oder aber Angebote mit außerordentlich prekären Beschäftigungsformen.

Ganz zu schweigen von neuen Dienstleistungen, die so dringend gebraucht werden um dem Nachlassen der sozialen Bindungskraft, den neuen Lebensrisiken, den Anforderungen an eine älter werdende Gesellschaft oder den wachsenden Aufgaben zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund angemessen begegnen.

Was heißt das für unsere Politik ?
Die tief greifenden gesellschaftlichen Umbrüche verlangen einen Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge durch neue Dienstleistungen im sozialen, kulturellen, Umwelt- und Freuizeitbereich,die nicht von oben her angeboten werden, sondern ihren Platz mitten in der Gesellschaft haben. Die die Selbstorganisationsfähigkeit der Kieze und Nachbarschaften beleben, die sozialen Netze enger knüpfen, Entscheidungs- und Arbeitsstrukturen jenseits von Hierarchie schaffen.
Wie wichtig diese Angebote sind ist längst schon in unseren Alltag eingedrungen. Wir begegnen ihnen in Selbsthilfegruppen, selbst organisierten Nachbarschaftsinitiativen und in einem kaum überschaubaren Netzwerk sozialer, kultureller und auf Integration von Migranten gerichteter Projekte, die sich aber in hohem Maße auf ehrenamtliche Arbeit stützen.
Das ist gut so, weil dadurch die Zivilgesellschaft gestärkt wird und neue, basisdemokratische Strukturen entstehen. Was diesen Projekten fehlt allerdings dringend fehlt, ist Kontinuität und professionelle Unterstützung durch öffentlich geförderte Beschäftigung.
Die Arbeitsmarktpolitik hat dies schon lange erkannt und seit Jahrzehnten eine unüberschaubare Vielfalt von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in diesem Bereich finanziert.
Das war alles andere als Kontinuität und gute Arbeit.
Denn Erstens haben die Arbeitsmarktpolitiker diesen Sektor nie als eigenständiges Segment des Arbeitsmarktes betrachtet, sondern als Durchgangsstation zu einer neuen Dauerbeschäftigung in der gewerblichen Wirtschaft oder dem öffentlichen Dienst.

Zweitens hat die Arbeitsmarktpolitik mit ihrem Sparwahn und der Ideologie des Forderns und Förderns nicht nur die Zahl der Maßnahmen heruntergeschraubt, sondern vor allem die Bezahlung und die Beschäftigungsdauer. Wo vor Jahren noch tariflich bezahlte ABM Stellen auf bis zu zwei Jahre gefördert wurden, arbeiten heute Ein-Euro-Jobber oder wird miserabel entlohnte Bürgerarbeit geleistet.
Nein liebe Genossinnen und Genossen, das wollen wir nicht fortsetzen.
Inzwischen gibt es wohl nirgendwo so viele prekäre Beschäftigung, wie in diesem Sektor und vor diesem Hintergrund schlechter Erfahrungen mit öffentlichen Beschäftigungsmaßnahmen, und belastet mit den alten, ideologischen Denkgewohnheiten der Arbeitsmarktpolitik, haben wir in Berlin mit dem Aufbau eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors begonnen, für den es bisher kein Beispiel in der Bundesrepublik gibt. Weder was die Größenordnung betrifft und erst recht nicht angesichts des von uns durchgesetzten Mindestlohns.
Ich finde, dass wir auf dieses Referenzprojekt durchaus ein wenig stolz sein können….
Der ÖBS ist schon seit über einem Jahrzehnt eines unserer Zukunftsprojekte, mit dem wir auf den Umbruch der Arbeitsgesellschaft antworten, einen Beitrag zum sozialen und ökologischen Umbau der Gesellschaft leisten, und gleichzeitig einen zivilgesellschaftlichen Bereich zwischen Markt und Staat schaffen wollen (Abgrenzung zum ÖD).
Also im Hier und Heute eine Vision etablieren wollen, die eine ähnliche Funktion haben soll, wie der Genossenschaftsgedanke in der alten Arbeiterbewegung. Aber das Hier und Heute beschert uns leider politische Mehrheiten, die nicht verstehen wollen, dass es allemal besser ist das Geld, das für Arbeitslosigkeit ausgegeben wird, für sinnvolle Beschäftigung im gemeinwohlorientierten Bereich einzusetzen.
Aber wir dürfen uns keine Illusion machen: Die Bundesregierung setzt alles daran, dass das kein Rot-Rotes Erfolgsprojekt wird und legen uns Steine in den Weg, wo immer möglich.
Und deshalb hat ein solches Projekt mit vielen Problemen zu kämpfen.
Angesichts der bestehenden Gesetzeslage muss man daher nicht nur Phantasie und Durchsetzungsvermögen entfalten, man muss auch Geduld haben, um sich nicht von der Kleingeisterei entmutigen zu lassen, der man an allen Ecken und Kanten begegnet, wenn man neue Wege gehen will.
Aber wir haben uns nicht entmutigen lassen, wir haben das Beste aus dem Unzulänglichen gemacht und unser ÖBS-Projekt in Berlin nimmt Gestalt an.
Bis jetzt sind es 1.300 Frauen und Männer in sozialversicherungspflichtigen existenzsicheren Arbeitsplätzen mit längerfristiger Perspektive. Sie tragen dazu bei, die Integration von EinwanderInnen voranzubringen, wie die Stadtteilmütter, sie stärken den sozialen Zusammenhalt und sichern Teilhabe, wie die Mitarbeiter der Sozialmärkte oder die Mobilitätshelfer im ÖPNV, sie erbringen wohnortnahe Gesundheits- und Sozialleistungen für ältere Menschen und ermöglichen ihnen so lange wie möglich selbstbestimmt zu leben
und was das für das Selbstwertgefühl der Langzeitarbeitslosen bedeutet, kann sich jeder vorstellen.

Lasst mich zum Abschluss noch eine programmatische Anmerkung machen. DER LINKEN wird häufig der Vorwurf gemacht, nicht mehr als die Konzepte der 70er Jahre parat zu haben und die Umbrüche der Gegenwart zu ignorieren oder unbezahlbare Visionen zu entwickeln.
Ja, unser Konzept des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors ist eine Vision, aber sie rechnet sich auch. Ja, es ist eine Vision, aber eine, die aus den Umbrüchen der Gegenwart entstanden ist und wir kämpfen für sie, weil sie ein Stück unseres Zukunftsmodells erkennen lässt.

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