Wer die Gesellschaft verändern will

2. Parteitag, 4. Tagung

Rede von Klaus Lederer


[ Manuskript – es gilt das gesprochene Wort. ]

Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Gäste,

wenn wir heute über unsere Ideen zur Entwicklung des öffentlichen Unternehmenssektors und über die Perspektiven der Verkehrsentwicklung im Südosten Berlins beraten, so tun wir das mit Blick auf den Bundesparteitag im Mai in Rostock und wir tun das als ein Landesverband, der stadtpolitisch profiliert und stabil dasteht.
Fünf Jahre nach den ersten Schritten zur Bildung einer gesamtdeutschen Linken stehen wir vor einem Wechsel des Führungspersonals und vor wesentlichen programmatischen und strategischen Weichenstellungen. Im Jahr 2011 wird in Berlin gewählt. Wir werden in einen Wahlkampf gehen und wollen möglichst mit viel Rückenwind unserer Bundespartei für unsere Projekte und Konzepte für ein soziales, demokratisches und buntes Berlin werben und damit ein ordentliches Wahlergebnis einfahren. Das stellt unseren Landesverband vor enorme Herausforderungen, auf die wir uns gut vorbereiten müssen und die wir engagiert und miteinander zu bewältigen haben. Nichts wird uns zufallen. Der Bundespartei nicht und uns nicht.
Wir haben einen Eindruck bekommen, wie kritisch die Situation tatsächlich ist, seit wir im Januar mit der Ankündigung Oskar Lafontaines und Dietmar Bartschs, nicht wieder als Vorsitzender bzw. Bundesgeschäftsführer kandidieren zu wollen, konfrontiert sind. Beide haben unbestritten großen Anteil an den bisherigen Erfolgen der LINKEN. Verpatzt wurde unser politischer Jahresauftakt, weil dieser Wechsel komplette Führungslosigkeit offenbarte und planlos, unkoordiniert und nicht ohne öffentliche Beschädigungen losgetreten wurde. Ich will das alles jetzt gar nicht noch einmal groß aufrollen. Was es zu sagen gab, wurde gesagt. Eins möchte ich aber gern noch einmal hervorheben, weil es für die anstehenden Herausforderungen von größter Bedeutung sein wird: Wenn wir es nicht schaffen, diesen Stil der Auseinandersetzung aus dem Kanon unserer innerparteilichen Kultur zu verbannen, werden wir Schaden nehmen und unsere Fähigkeit, Politik zu machen, aufs Spiel setzen.
Angesichts der anstehenden Programm- und Strategiedebatte wünsche ich mir, dass wir die notwendigen Debatten ehrlich und öffentlich führen sollten. Der Hinweis, dass Kritik nur in Gremien zu erfolgen habe, ist nicht nur lebensfremd, er fördert lähmende Vasallentreue, Karrierismus und Speichelleckerei, auch Unehrlichkeit in den Debatten. Und er hinterlässt außerdem den Eindruck, dass wir unsere »äußere« Umwelt - insbesondere die der Medien - per se als uns feindlich gesinnt betrachten.
Nun bin ich nicht naiv und weiß auch, dass über und durch Medien Politik gemacht wird, und das durchaus nicht immer in unserem Sinne. Deshalb ist verantwortlicher Umgang mit ihnen angebracht. Man muss nicht alles, was einem einfällt, immer und sofort in ein Mikrofon sprechen, das einem unter die Nase gehalten wird. Eine Partei, die Öffentlichkeit und öffentliche Auseinandersetzung fürchtet, sich aus Misstrauen gegen die Umwelt selbst politisch einmauert, geht entweder daran zu Grunde oder verkommt zur Sekte. Das ist eine meiner Lehren aus der Geschichte. Beides sind für mich keine sonderlich erstrebenswerten Alternativen.
Nur, wenn wir die politischen Ideen und Konzepte ernsthaft, transparent und nachvollziehbar für das Publikum diskutieren, werden wir interessant für die Einmischung weiterer Mitstreiterinnen und Mitstreiter, sind wir offen für die Anregungen und die Kreativität aus dem gesellschaftlichen Raum. Aber nicht nur das. Wir sorgen auch für gesellschaftlichen Rückhalt, für Kraft zur Durchsetzung unserer politischen Vorstellungen in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
Ein Beispiel sind die aktuellen Debatten um den ÖBS: Während die Bundesregierungen die Bedingungen für eine Fortsetzung und Weiterentwicklung unserer öffentlich geförderten Beschäftigung verschlechtern will, führen wir eine Konferenz mit dreistelliger TeilnehmerInnenzahl zum Thema durch und erhalten mit offenen Briefen von Trägern und Beschäftigten Unterstützung für unser Projekt. Das zeigt doch, dass wir einen Ansatz gefunden haben, der wahrgenommen wird, der Widerhall erfährt und die Nerven derjenigen trifft, die neue Modelle zur Förderung des sozialen Zusammenhalts entwickeln und durchführen wollen, aber auch derjenigen, die lange Zeit ohne Arbeit waren und nun wieder eine Entfaltungsmöglichkeit zur Sicherung ihrer Existenz gefunden haben. Sie setzen sich nun mit uns dafür ein.
Aber auch in der Partei brauchen wir das, um Kraft zu entfalten. Die Signale, die ich in den vergangenen 3 Monaten im Landesverband erhalten habe, sind sorgenvolle. Viele Genossinnen und Genossen machen sich Gedanken, ob wir die Kraft, die wir mit dem 27. September letzten Jahres gewonnen haben, ausreichend produktiv werden lassen. Sie machen sich einen Kopf um die Selbstdarstellung und Handlungsfähigkeit unserer Partei, um die strategischen Perspektiven, um die innerparteiliche Kultur. Sie fühlen sich abgekoppelt von zentralen Weichenstellungen, fühlen sich nicht im Bilde und können schwer nachvollziehen, was da im Vorfeld des Bundesparteitags vonstatten ging. Aus Unverständnis und Missmut entstehen schnell Frustration und Lethargie. Frustriert und lethargisch kann man aber nicht die Gesellschaft verändern, liebe Genossinnen und Genossen!
Der Landesvorstand hat sich mit der Situation mehrfach intensiv befasst. Wir haben uns breiter Kommunikation verschrieben, waren auf Basistagen und Hauptversammlungen unterwegs. Und nicht zuletzt haben wir, trotzdem wir uns einzelne Abstimmungsfragen gewünscht hätten, gemeinsam mit anderen Landesverbänden aus West und Ost, einen Mitgliederentscheid initiiert. Dazu hab ich einen Brief an alle Genossinnen und Genossen unseres Landesverbandes geschrieben, ich will das deshalb jetzt nicht wiederholen. Schwierig war das allemal, und es zeigt, dass wir in unserer jungen Partei noch immer sehr in Einflussgebieten und im Schauen auf Autoritäten gefangen sind, so dass für die Hegemonie in der Diskussion weniger die Qualität der Argumente als das Vorurteil und die Strömungszugehörigkeit entscheidend ist. Das muss überwunden werden, aber der Mitgliederentscheid zeigt, dass es ein überwindbarer Zustand ist. In unserem Landesverband haben sich ca. zwei Drittel aller Genossinnen und Genossen am Mitgliederentscheid beteiligt. Ich nehme das als hoffnungsvolles Zeichen, als Demonstration, sich einmischen, mitreden und mitbestimmen zu wollen über unser »Wohin?«.
Wir brauchen unsere Kraft für Politik, nicht für unsere Selbstbeschäftigung. Ich spüre das ja an mir selbst, liebe Genossinnen und Genossen. Wenn wir in einer solchen Situation sind, drückt das immer auf die Stimmung und auf die Energie, auf die Kraft zur Veränderung. Anderen geht es genauso, das weiß ich. Wir können uns das alle nicht leisten.

Liebe Genossinnen und Genossen,
einige haben es in den vergangenen Tagen mitbekommen: Ich war auch ein »Vulkan-Flugverbots-Opfer« ;-). In den zurückliegenden drei Wochen hatte ich Gelegenheit, mich in den USA umzuschauen. Mit einer Gruppe von vier weiteren Ossis war ich drei Wochen lang in fünf Städten der USA unterwegs, hatte dort 49 Treffen und Gespräche mit Nichtregierungsorganisationen, Kommunalpolitiken, Initiativen, Parlamentariern und in Behörden. Ich habe erlebt, wie Beschäftigte in Cleveland gegen die Schließung eines Werks von Hugo Boss und seine Verlagerung in die Türkei kämpfen, habe zum Beispiel gesehen, wie initiativ- und ideenreich sich eine Initiative von Hispanics für Bildungschancen und sozialen Zusammenhalt in Dallas einsetzt, habe ein Krankenhaus besucht, in dem jede und jeder - egal, ob mit Einkommen oder ohne, ob mit Versicherung oder ohne - behandelt wird, auf hohem Standard und mit unglaublich viel Engagement der Ärztinnen und Ärzte. Ich könnte noch vieles mehr erzählen. Aber ich will auf eines hinaus, und das betrifft die Strategiedebatte, die unsere Partei zu führen hat: Vieles, was uns als völlig selbstverständlich erscheint, ist es mitnichten. Und auf der anderen Seite: vieles, was wir für unmöglich halten, ist es nicht. Es kommt auf die Kraft an, die dafür entfaltet werden kann.
Ich habe erstmalig begriffen, was die Gesundheitsversicherungsreform von Obama für das Denken und die Kultur der USA bedeutet. Sie markiert tatsächlich einen Wendepunkt, der kaum zu überschätzen ist. Ich habe viele kritische Stimmen gehört, die darauf verweisen, dass diese Reform nicht weit genug geht. Sie haben erlebt, mit welchem Ehrgeiz diese Reform gestartet und wie sie unter dem Druck der Lobbyisten und der Abgeordneten immer weiter abgeschliffen wurde, damit sie eine Chance hatte, das Parlament zu passieren. Während hier in Deutschland oft gestritten wird, ob Obama möglicherweise zu nachgiebig gewesen sei oder nicht, will ich das überhaupt nicht bewerten. Das für mich Wichtigste ist: Es reicht nicht nur, eine schöne Idee zu haben, wie die Welt eingerichtet sein sollte. Wer die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern will, muss sich Rechenschaft ablegen, wie diese Idee unter den gegebenen Kräfteverhältnissen und Realitäten Wirklichkeit werden könnte und muss hierfür die gesellschaftliche Mobilisierung bewerkstelligen. Da liegt die eigentliche Schwierigkeit. Und da ich auch eine Demonstration der Tea-Party-Bewegung erlebt habe, konnte ich zumindest einen kleinen Eindruck gewinnen, was für ein politisches Erdbeben - nicht allein im Establishment - die Verabschiedung der Gesundheitsreform im Land ausgelöst hat. Und welche Mobilisierungswirkung gerade auch von Rechts möglich ist, wenn sie sich allein auf Protest und das Schüren von Ängsten und Ressentiments stützt. Die Härte, Unversöhnlichkeit und Schärfe, mit der über die Gesundheitsreform - stellvertretend für jede Ausgabenerhöhung oder staatliche Regulierungsmaßnahme - gestritten wird, offenbart eine tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Unterm Strich bleibt trotz allem: bis 2019 werden nahezu alle US-Amerikaner eine Gesundheitsversicherung haben.

Liebe Genossinnen und Genossen,
wer die Gesellschaft verändern will, muss hierfür die notwendige kontinuierliche Unterstützung eines breiten Teils der Gesellschaft mobilisieren. Es gibt kaum etwas, was komplizierter ist - ganz gleich, wo auf der Welt wir leben. Und da bin ich bei den anstehenden programmatischen Diskussionen.
Wir haben jetzt einen Programmentwurf vorliegen. Dieser Programmentwurf soll in den nächsten Monaten intensiv diskutiert werden. Ich denke, wir müssen das tatsächlich tun, denn unser Programm markiert das politische Selbstverständnis unserer Partei.
Ich wünsche mir ein Programm, das die Interessen und Widersprüche im politischen Raum aufgreift, das Ausstrahlung besitzt und zur Diskussion und zum Engagement und zur gesellschaftlichen Mobilisierung anregt. Tut das der vorliegende Entwurf? Ich meine, er leistet das in seiner grundsätzlichen Diktion nicht. Das beginnt schon bei der Situationsbeschreibung. Danach leben wir in einer Horrorwelt, die von einigen hundert Unternehmen und Individuen beherrscht wird und sich am Abgrund befindet. Alle Missstände sind auf diese eine Ursache zurückzuführen, Demokratie und gesellschaftliche Veränderung sind nicht vorhanden und auch unmöglich, solange nicht dieser »neoliberale Kapitalismus« beseitigt ist. Deshalb müsse ein Systembruch stattfinden, eine Quasirevolution. Erst dann können soziale Gerechtigkeit, Ökologie und Demokratie gedeihen. Wir sind die einzige Partei, die noch nicht so korrupt und blind ist, das zu sehen. Und wir sehen uns einem Kartell von neoliberalen Parteien gegenüber, mit denen perspektivisch keine Veränderung erreicht werden kann, weshalb unsere Rolle darin besteht, die Empörung und den Protest der Massen und Bewegungen zum Ausdruck zu bringen.
Ist das eine überzeugende, lebenswirkliche Darstellung unserer Verhältnisse? Ich denke, dass das mit der Lebenswelt vieler Menschen und auch mit ihrer Sicht auf die Welt, bei allen Problemen, nicht viel zu tun hat - und es darüber hinaus auch für ein erfolgversprechendes strategisches politisches Handeln keine sinnvolle Grundlage abgibt. Mit einer solchen Beschreibung machen wir den Kapitalismus, der ein reales, menschgemachtes und komplexes gesellschaftliches Verhältnis und deshalb auch veränderbar ist, zu einem vagen Subjekt, dem es sich entgegenzustellen gilt. Wir mogeln uns um die Mühe einer sorgfältigen Interessen- und Kräfteanalyse herum, indem wir auf das Jenseits verweisen. Wir glorifizieren den Protest zum revolutionären Gegensubjekt und verzichten auf einen eigenen politischen Gestaltungsanspruch, der im Hier und Jetzt wurzelt und sich die Bruchlinien in der gegenwärtigen Gesellschaft zum Ausgangspunkt nimmt, um für ihre ökologische, demokratische und soziale Veränderung zu streiten. Diesen Fehler haben die kommunistischen Arbeiterparteien nahezu ein Jahrhundert gemacht. Und es ist noch keine zwanzig Jahre her, dass sie damit gescheitert sind.
Wir werden nicht umhinkommen, uns der Frage zuzuwenden, wie konkret jetzt und heute die bestehende kapitalistische Gesellschaft zu verändern ist. Mit wem gemeinsam, auf welchem Wege, mit welchen Konsequenzen soll das geschehen? Wie soll eine andere, nicht von der Profitmaximierung dominierte ökonomische Basis für die Gesellschaftsentwicklung tatsächlich erreicht werden? Dazu liefert der Entwurf zu wenig überzeugende und brauchbare Ansätze, die für einen Dialog mit gesellschaftlichen Partnern taugen könnten.
Es stimmt ja, dass der Neoliberalismus keines seiner Versprechen eingelöst hat. Es stimmt ja, dass die Politik, die seinen Prämissen folgt, in der Krise der vergangenen zwei Jahre gescheitert ist. Es ist genauso richtig, dass das immer mehr Menschen auch wahrnehmen und spüren. Aber die von ihm geprägten sozialen, ökonomischen, kulturellen und ökologischen Verhältnisse werden nicht von allein verschwinden und nicht durch eine Revolution oder mehrere revolutionäre Brüche einfach ausgewechselt. Und es hilft nichts, wenn wir die bei einer solchen Weltbeschreibung geradezu zwangsläufig zurückbleibende Ratlosigkeit mit demonstrativer antikapitalistischer Prosa zu kaschieren versuchen.
Liebe Genossinnen und Genossen,
wir brauchen eine sehr sorgfältige Analyse der Faktoren und Kräfte, die die gesellschaftlichen Veränderungen der Gegenwart, den permanenten Formenwandel des modernen Kapitalismus, vorantreiben. Und wir müssen daraus schlüssig sehr konkrete, mobilisierungs- und umsetzungsfähige Konzepte ableiten, die breite gesellschaftliche Unterstützung gewinnen können und einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft einleiten. Jetzt und hier oder zumindest in absehbarer Zeit. Auf die Möglichkeit von Allianzen, die das bewerkstelligen können, müssen wir hinarbeiten. Das ist meines Erachtens die Forderung der Gegenwart. Denn daraus leiten sich strategische und politische Anforderungen ab, die wir uns sehr deutlich vor Augen halten müssen.
Ein Zurück zum nationalstaatlich regulierten Kapitalismus der 70er Jahre wird es nicht geben. Auch wenn es heute viele Menschen gibt, die sich als Verlierer der Veränderungen der vergangenen 30 Jahre sehen, erschiene mir das als Sozialist auch als wenig erstrebenswertes Ziel. Die Produktivkraftentwicklung und die Veränderungen in Akkumulationsregime und politischer Form des Kapitalismus sind Herausforderung zum Eingreifen, um die Zukunft zu gestalten, nicht zum Beschwören einer überlebten und geschönten Vergangenheit.
Mein Eindruck ist, dass die PDS mit der Beschreibung des demokratischen Sozialismus als Weg, Ziel und Wertesystem programmatisch einen gedanklichen Schritt weiter war. Uns war damals ganz klar, dass nicht einfach die Wiederauflage des Fordismus der 70er Jahre in neuen Vokabeln programmatisch genügt, wenn man für demokratischen Sozialismus eintreten will. Dass die Beschränkung auf 15 Grundforderungen nach Umverteilung, Staatsintervention und der Veränderung einiger Eigentumsformen - so richtig die einzelne Forderung sein mag - noch lange keine grundlegende ökologische und soziale Wende, keine durchgreifende Demokratisierung ermöglicht. Wie stellen wir uns die Welt, die Bundesrepublik, Berlin im Jahr 2020 und im Jahr 2050 vor? Und wie könnten wir dem näher kommen?
Das müssen wir beantworten und daran müssen wir arbeiten, liebe Genossinnen und Genossen. Und ich würde mir eine Programmdebatte wünschen, die anregende Signale in die Gesellschaft sendet, was in den nächsten Jahren von uns konkret zu erwarten ist - auf der Straße, in den Parlamenten, in der Nachbarschaft, in den Universitäten und Betrieben, auch in Regierungen, in der sozialen und ökologischen Gesellschaftskultur, in Kunst und Literatur. Signale, wie wir uns Ökonomie und Demokratie in den kommenden Jahrzehnten vorstellen. Signale, die Schwung in die Politik und die Stimmung in unserer Stadt und unserem Land bringen, die Lust machen auf Engagement und Initiative zur Veränderung, auf Gegenwehr und Konzepte. Das ist alles andere als einfach, aber darunter wird´s nicht zu haben sein.
In diesem Sinne geht mir der Programmentwurf nicht weit genug. Manch guter Ansatz hängt zusammenhanglos im Raum des plakativen Antikapitalismus und demonstrativen Protestgestus. Dass der Kapitalismus eines Tages an seinen Krisen zerbrechen würde, war eine lange, aber doch trügerische Hoffnung der kommunistischen und Arbeiterbewegung. Auch wüsste ich nicht, ob das eine schöne Veranstaltung wäre. Ob sich diese Gesellschaft in den nächsten Jahren in eine sozialere und ökologischere Richtung entwickelt oder das neoliberale Politikmodell in restaurierter Form fröhliche Wiedererweckung feiert, haben wir ein wenig mit in der Hand. Wir können mitbestimmen, ob der Prozess gesellschaftlicher Spaltung und der Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in eine andere Richtung gelenkt werden kann.

Liebe Genossinnen und Genossen,
ich meine, dass wir dafür durchaus etwas vorzuweisen haben - als Bundespartei und in den Ländern. Schauen wir uns allein die vergangenen Monate in Berlin seit dem Novemberparteitag an.
Nach langen, schwierigen Verhandlungen ist klar: Berlin wird wieder in die Tarifgemeinschaft der Länder zurückkehren, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst werden wieder das bundesweite Tarifniveau erreichen. Die Vereinbarung mit dem Landeselternausschuss der Kitas über die Verbesserung der Ausstattung beginnt Realität zu werden. Die von Heidi Knake-Werner eingereichte Klage gegen die Tariffähigkeit der gelben Gewerkschaften hatte Erfolg. Der Entwurf des neuen Vergabegesetzes ist im Parlamentsgang und wird hoffentlich bald verabschiedet, so dass noch vor der Sommerpause klar ist: Aufträge des Landes gehen nur an Firmen, die Mindest- oder gewerkschaftlich vereinbarten Tariflohn zahlen. Gemeinsam mit den Brandenburger Genossinnen und Genossen arbeiten wir an der Aufhebung, zumindest der Lockerung, der Residenzpflicht für Flüchtlinge. Erfolgreich haben wir uns in den vergangenen Wochen gegen die Attacken der schwarz-gelben Koalition auf den ÖBS zur Wehr gesetzt und die erreichten 7.500 Stellen auch für die nächste Zukunft gesichert. Und wenn der Bundesrechnungshof gerade erneut moniert, dass unsere AV Wohnen immer noch zu großzügig sei, dann zeigt das: auch hier konnten wir die Substanz unserer Regelungen gegen manchen Angriff verteidigen. Wir führen Verhandlungen mit SPD und Grünen über eine Änderung des Informationsfreiheitsgesetzes, die eine Offenlegung von vertraulichen Verträgen über die Wasserwirtschaft hinaus zum Ziel hat. Wir haben uns an einer erfolgreichen Kampagne zur Verhinderung des großen Neonazi-Aufmarsches in Dresden beteiligt. Wenn wir es gut vorbereiten, können wir ein hohes Maß an Kraft entfalten. Das war zwischenzeitlich nicht immer so, umso mehr freut es mich. Wir werden das bald wieder gebrauchen können, nämlich, wenn es am 1. Mai darum geht, friedlich gegen den Aufmarsch der braunen Kameraden in Berlin auf die Straße zu gehen.
Im März hat unsere Abgeordnetenhausfraktion gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin unter großer Resonanz über den ÖBS als eine Alternative zu Hartz IV und über den erreichten Stand bei unserem Gemeinschaftsschulprojekt, für gute Bildung für Alle, diskutiert. Auf einer Verkehrskonferenz wurde nach Lösungen für die Verkehrsprobleme im Südosten gesucht.

Liebe Genossinnen und Genossen,
all das zeigt, dass wir lebendig an Politik arbeiten. Ich wünsche mir das in noch größerer Breite und hoffe, dass die Resonanz in der Stadt noch zunimmt. Das ist die Grundlage für den politischen Erfolg, nicht nur bei Wahlen, sondern gerade auch in den jeweiligen Themenfeldern. Nun weiß ich, wird schon über größere Beratungen zur Umwelt- und zur Integrationspolitik nachgedacht. Konferenzen sind sicherlich nicht alles. Aber wenn sie Orte werden, an denen wir uns nicht selbst zu bekehren versuchen, sondern mit den verschiedenen Beteiligten über unsere Vorstellungen diskutieren und sie qualifizieren, dann ist das der beste Grundstein für erfolgreiche Arbeit in der Stadt. Und selbst wenn es Rückschläge gibt, wenn wir dabei mal Fehler machen, dann gehört das dazu. Wir können hier Erfahrungen und Kompetenz sammeln, mit unseren Zielvorstellungen überzeugen und Kraft und Unterstützung gewinnen. Eine grundlegende Bildungsreform, eine grundlegende Reform der Instrumente der Arbeitsmarktpolitik, eine grundlegende Gesundheitsreform, die die Kosten im Griff hält und trotzdem mehr Gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit in der Gesundheitsversorgung sichert, eine grundlegende ökologische Reform unserer Ökonomie und Daseinskultur, eine grundsätzlich neue Integrationspolitik - wir müssen uns eine klare Vorstellung davon machen, was für Kraft und konzeptionelle Stärke nötig ist, um solche Ziele voranzutreiben oder gar zu erreichen! Wenn wir diese Welt und dieses Land verändern wollen, kann es nicht schaden, zunächst mal in unserer Stadt damit erfolgreich zu sein. Von nichts kommt nichts. Machen wir da gemeinsam genauso engagiert und initiativreich weiter!

Das gilt auch für die Debatten um das Wohnen in Berlin, sei es die Suche nach Instrumenten einer sozialen Wohnungspolitik oder bei der Diskussion um die GSW und ihre Zukunft. Wir müssen uns genau anschauen, welche praktischen Probleme bewältigt werden müssen und welche realitätstauglichen Antworten wir dazu jeweils finden. Immer, wenn wir unvorbereitet in sehr konkrete Auseinandersetzungen stürzen, wenn wir nicht rechtzeitig Ideen und Konzepte aufbieten können, uns an der realen Lage orientieren, um sie zu verändern, werden wir mit großer Wahrscheinlichkeit Schiffbruch erleiden. Wenn wir aber ausgereift und überlegt vorgearbeitet haben, gibt es gute Chancen für politischen Erfolg.
Heute diskutieren wir, wie wir mit der A 100 umgehen wollen. Die Kritik an dem Projekt ist richtig, auch der Hinweis, dass mit den 400 Millionen, die dafür aufgewendet werden sollen, wesentlich sinnvollere und effektivere Lösungen machbar sind. Doch wenn wir den Bau der Autobahn wirklich stoppen wollen, dann müssen wir überzeugend darlegen können, wie die Verkehrsprobleme in Treptow-Köpenick bewältigt werden können. Nicht irgendwelche Alternativen sind gefragt, sondern solche, auf deren Realisierung wir real Einfluss haben. Wir haben auf unserer Verkehrskonferenz den Anfang gemacht, nach solchen Lösungen zu suchen. Aber ich verrate auch kein Geheimnis, dass da auch noch jede Menge Fragen offen geblieben sind. Die Antworten darauf wird uns unser heutiger Parteitagsbeschluss so oder so nicht liefern. Die werden wir uns weiterhin selbst in einem kontinuierlichen Prozess erarbeiten müssen.
Schließlich zeigen die Vergabepraxis bei der HoWoGe und auch die Schlagzeilen um den Maserati-fahrenden Chef eines gemeinnützigen Trägers der Sozialarbeit, das viele Herausforderungen Daueraufgaben sind. Wir müssen immer wieder aufs Neue darum kämpfen, dass politische Steuerung, demokratische Kontrolle, Transparenz und sorgsamer Umgang mit den Steuergeldern, die für die vielen öffentlichen Aufgaben aufgewendet werden, keine hohlen Phrasen, sondern bei der LINKEN in guten Händen sind. Wir dürfen nicht zulassen, dass notwendige öffentliche Ausgaben und Aufgaben in Misskredit gebracht werden, dass das wichtige Engagement von tausenden Ehren- und Hauptamtlichen im sozialen Bereich Berlins in ein trübes Licht gerückt werden kann.
Und - angesichts unseres zweiten Themas auf dem heutigen Landesparteitag - auch wenn wir über unsere öffentlichen Unternehmen und größere demokratische Einflussnahme auf den Sektor der Daseinsvorsorge reden, müssen wir uns der Mühe unterziehen, einleuchtende und machbare Ideen auf den Tisch zu legen. Was wollen wir erreichen und wie können wir das? Das müssen wir liefern.
Ich könnte das jetzt noch über die verschiedensten Themen hinweg fortsetzen. Wir werden immer wieder vor dem Problem stehen, uns nicht nur zu Grundsätzen und roten Linien bekennen oder ihren Verrat bzw. ihre Überschreitung anprangern zu können, sondern sehr konkret darlegen zu müssen, welches unserer politischen Ziele auf welche Weise umgesetzt werden soll und kann und wie das das Leben in unserer Stadt und unserer Gesellschaft jeweils verändern soll oder wird. Ich sehe die Gefahr für unsere Glaubwürdigkeit eher darin, dass wir Alternativen versprechen, die keine sind, weil sie sich als nicht umsetzbar erweisen oder scheitern.

Liebe Genossinnen und Genossen,
zum Schluss noch eine Reminiszenz an ein zurückliegendes Ereignis. in den nächsten Tagen feiern wir ein Jubiläum, von dem sich manche gewünscht und viele angenommen haben, dass es das nie geben würde. Das 20jährige Bestehen unserer Abgeordnetenhausfraktion lässt nochmal manche Erinnerung wach werden. Viel unwahrscheinlicher erschien die Annahme, dass wir fast die Hälfte dieser Zeit als Regierungspartei die Geschicke Berlins mitgestalten würden. Die Gräben erschienen als zu tief, ebenso der Vertrauensverlust, den die SED mit dem von ihr als Staatspartei der DDR mit zu verantwortenden Scheitern des realsozialistischen Gesellschaftsmodells erlitten hatte. Viele, die damals den Neuanfang wagten, wurden von dem Gefühl angetrieben, dass sie etwas gutzumachen hätten, dass sie Verantwortung für das Geschehene mit übernehmen wollten. Aber es gehörte auch die innere Triebkraft dazu, etwas einbringen zu wollen in die neue Zeit und die sich neu zusammenfindende Stadt Berlin. Ohne all diejenigen, die damals und bis heute die Fahne hochgehalten haben, gäbe es DIE LINKE heute so in unserer Stadt nicht - genauso wie es sie ohne die vielen Genossinnen und Genossen in den Basisorganisationen und Bezirksverbänden nicht gäbe und in den Bezirksämtern und Bezirksverordnetenversammlungen. Wir sollten uns einfach solche Jubiläen hin und wieder mal vor Augen führen, um nicht zu vergessen, was bereits an Wegstrecke hinter uns liegt. Das kann doch motivieren. Und weil es nun konkret um die Abgeordnetenhausfraktion geht, möchte ich stellvertretend mal ein paar Namen nennen - die Liste muss zwangsläufig unvollständig bleiben: Carola, Marion, Martina, Peter-Rudolf, Harald, Steffen, auch unsere erste Fraktionsvorsitzende Gesine, die heut leider nicht hier sein kann, weil sie sich auf der Beratung der Kreisvorsitzenden als Bewerberin für den Parteivorsitz vorstellt. Wirklich stellvertretend, weil der Erfolg immer auf gutem Miteinander Vieler basiert, Euch besonderen Dank für den Einsatz und uns allen weiterhin viel Kraft, damit wir dann mit guter Bilanz den 30. feiern können.