Nicht geschafft, stärker zu werden

ParteitagTobias Schulze

Rede von Tobias Schulze


[Manuskript – es gilt das gesprochene Wort.]

Liebe Genossinnen und Genossen, Oskar Lafontaine war vor fünf Jahren und einer Woche hier auf unserem Parteitag. Wir waren mit 13,4 Prozent eingelaufen und hatten trotzdem die Chance auf einen Regierungseintritt. Er sagte damals, wir sollten nur in die Koalition eintreten, wenn wir diese als strategische Chance sehen, wieder stärker zu werden. Denn – Zitat – »soviel Altruismus, dass wir objektiv das Gute versuchen um den Preis, dass wir politisch immer weiter geschwächt werden, das kann uns niemand in einer Demokratie abverlangen.«

Wir haben es nicht geschafft, stärker zu werden und das hatte viele Gründe – mehr als die von Oskar Lafontaine befürchteten. Jeder, der von uns im Wahlkampf auf der Straße war, hat sie ins Gesicht gesagt bekommen. Und jeder kann seine schon vorher fest stehende Meinung nach diesem Wahlergebnis bestätigen:

Etwa die, die sagen: wir waren zu angepasst in der Koalition, haben zu viel geschluckt und das zu Schluckende dann auch noch der Parteibasis schmackhaft machen müssen. Ich denke, jeder von uns hat Wählerinnen und Wähler gesprochen, die von der GSW erzählen konnten, vom Wasserentscheid, vom Straßenausbaubeitragsgesetz, von der CFM und von den Zuständen in den Schulen. Viele, besonders die linke Szene der Stadt, haben uns den Politikstil der Koalition übel genommen. Und eine Lehre lautet sicher: eine linke Regierungsbeteiligung ohne die Unterstützung der linken Szene der Stadt wird nicht erfolgreich sein.

Liebe Genossinnen und Genossen, aber es gibt auch die andere Wahrheit, die im Wahlkampf zu erfahren war: von unseren Erfolgen wussten viele Menschen nichts. Wenn man die Chance hatte, mit ihnen darüber zu sprechen, dann waren die meisten beeindruckt. Wir haben es einfach nicht geschafft, über die Jahre mit unseren Wählerinnen und Wählern über unsere Politik zu reden, Siege und Niederlagen lebendig zu vermitteln und das trotz aller Probleme positive Lebensgefühl in Berlin mit unserer Regierungszeit zu verbinden. Wir haben es Wowereit überlassen, sich mit diesem Berlin-Gefühl aus dem Umfragetief herauszukatapultieren, und den Priraten, das junge und wilde Berlin zu repräsentieren.

Aber auch die können sich bestätigt fühlen, die die Umfragekurven von Land und Bund übereinander legen und erstaunliche Parallelen feststellen. Wir haben im Bund unsere Umfragen fast halbiert und zeitgleich gingen auch die Berliner Umfrage nach unten. Und in Berlin haben uns viele Leute gefragt, was das mit den Wegen zum Kommunismus, mit dem Brief an Castro, mit dem Mauergedenken und auch mit Flugblättern gegen Israel sollte. Der Gegenwind aus der Bundesebene hat uns nicht geholfen!

Und auch hier gibt es die andere Wahrheit: bei der Sonntagsfrage lagen die Werte für die Bundestagswahl kontinuierlich um drei bis fünf Prozent über denen für die Abgeordnetenhauswahl. Diese drei bis fünf Prozent sind die Quittung für unsere Berliner Politik, die wir annehmen müssen. Hätten wir die gleiche Akzeptanz wie die Bundesebene wären wir mit 15 – 17 Prozent eingelaufen und die Debatte hier heute eine andere.

Dieses Wahlergebnis sollte uns alle nicht bestätigen, sondern nachhaltig verunsichern. Alte Gewissheiten sind bestenfalls die halbe Wahrheit. Wir müssen Wege entwickeln, wie wir diese Partei sichtbar und erlebbar machen. Über diese Wege werden wir sicher in den nächsten Monaten beraten, daher will ich dazu nichts sagen.

Aber die Zielmarken, die stehen schon fest: wir müssen eine Mitgliederpartei, eine weiblichere Partei, eine jüngere Partei, wir müssen eine offenere und transparentere Partei – und: wir müssen eine Ost-West-Partei werden.