Kraftvoll und gemeinsam in die Offensive kommen

Rede des Landesvorsitzenden

Klaus Lederer


[Manuskript – es gilt das gesprochene Wort.]

Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Gäste,

 

der Göttinger Parteitag hat eine neue Parteispitze gewählt. Noch am vergangenen Sonntag habe ich an unsere neuen Vorsitzenden die Einladung ausgesprochen, heute hier zu unserem Parteitag zu kommen – und ich freue mich, dass die Einladung angenommen wurde. Herzlich Willkommen in Berlin, Bernd Riexinger! Ich freue mich auch über weitere Gäste, darunter unseren neuen Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn, alle vermag ich jetzt gar nicht aufzuzählen.

Der Parteitag in Göttingen kann durchaus turbulent genannt werden, er hat ja eine entsprechende mediale Vor- und Nachbereitung erfahren. Eine Woche danach können wir konstatieren: DIE LINKE ist immer noch da, sie hat sich – wie wir gestern auf der stadtpolitischen Konferenz – ihrer eigentlichen Aufgabe zugewendet, nämlich dem politischen Eingreifen in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Aber es hat auch viele Fragen und viel Verunsicherung gegeben, weshalb es sicherlich mehr als gerechtfertigt ist, den heutigen Parteitag noch einmal für eine Verständigung unter uns zu nutzen.

 

Liebe Genossinnen und Genossen,

um all das auszudrücken, was mir nach dem Göttinger Parteitag durch den Kopf geht müsste ich lange reden. Und das, obwohl ich – wie ihr wisst – sehr schnell sprechen kann. Ich werde das jedoch nicht tun, sondern mich auf einige Aspekte beschränken.

 

1.

Nach dem Parteitag haben diverse Medienvertreter erwartet, dass ich mich wie ein geprügelter Hund fühlen müsse, weil Dietmar Bartsch nicht Vorsitzender geworden ist. Das macht deutlich, dass viele nicht verstanden haben, was in Göttingen stattgefunden hat.

Denn es war völlig anders. Ich bin durchaus mit einem guten Grundgefühl aus Göttingen nach Berlin zurückgekehrt, bei aller Ambivalenz in den Empfindungen. Für mich war Göttingen ein Parteitag auf dem wir unsere Sprache zurückgefunden haben. Wir haben ausgesprochen, was wir seit Monaten empfinden, was uns stört, verletzt, auf der Seele brannte. Das hatte etwas Befreiendes.

Viele Mitglieder waren betroffen, manche geradezu schockiert von dem, was Gregor Gysi in seiner Rede berichtete. Und zugleich waren viele froh, dass es endlich einmal ausgesprochen wurde, empfanden sie doch schon seit langem Ähnliches. Wie Gregor sprachen sie es lange nicht offen, sondern allenfalls hinter vorgehaltener Hand aus, aus Sorge vor dem schlechten Licht, das dadurch auf uns geworfen werden würde. Auch aus Sorge vor den Reaktionen. Rüffel, die erteilt werden würden. Mails und Leserbriefe, in denen man beschimpft wird. Wir erleben das auch jetzt zum Teil wieder.

Auf unserer Regionalkonferenz vor gut 2 Wochen hatte ich eingangs auch etwas zu inakzeptablen Formen der politischen Kultur und der Disqualifizierung Anderer durch Unterstellungen gesagt. Dazu stehe ich nach wie vor.

Ich kann dazu nur sagen: lasst es einfach mal so stehen! Akzeptiert, dass Gregor und viele andere so empfinden. Lasst uns nachdenken und darüber reden, wie es dazu gekommen ist – und wie wir es ändern können. Hoffnung macht mir, dass immer mehr diesen Weg gehen und diejenigen, die nun nachtreten – egal aus welcher Richtung – sich eher isolieren.

 

2.

Göttingen war auch der Parteitag, auf dem der Souverän, der Parteitag, die Delegierten entschieden haben. Das haben wir alle gewollt. Dazu gehört, dass wir alle diese Entscheidung nun auch zu akzeptieren haben, ganz egal, ob wir uns diesen oder einen anderen Ausgang gewünscht haben. Wir haben eine demokratisch gewählte Parteiführung. Und erstmalig war das nicht einfach die Ratifizierung von anderenorts getroffenen Entscheidungen – das hat ja auch etwas Emanzipatorisches.

Ich schließe mich allerdings auch Gregor Gysis Einschätzung an: Dass ein durch breite Teile der Partei getragener Vorschlag nicht zustande gekommen ist, dass eine Verständigung offensichtlich unmöglich war - das war ein Versagen der bisherigen Führung.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Delegierten haben die Macht. Aber sie haben auch das Recht darauf, dass die von ihnen Gewählten ihrer Verantwortung nachkommen. Und zu dieser Verantwortung gehört, sich untereinander zu verständigen und Lösungen aufzuzeigen. Ob diese Vorschläge beim Parteitag dann Akzeptanz finden oder nicht, ist die zweite, sich anschließende Frage.

 

3.

Der Parteitag in Göttingen hat aber auch gezeigt, dass wir zwar in der Lage waren unsere Sorgen und Befindlichkeiten über den innerparteilichen Umgang miteinander auszudrücken. Es fiel uns aber offenbar ziemlich schwer, die politischen Differenzen, die den Kern der Auseinandersetzung bilden, auf den Punkt zu bringen.

Jetzt sagen die einen, dass das daran liegt, dass unsere Differenzen gar nicht so groß sind. Das ist zum Teil richtig. Zumindest trifft es insoweit zu, als eine Reihe von Pappkameraden errichtet wurde, auf die dann mit viel Getöse eingeschlagen worden ist. Bist du Anbiederer oder nicht, stehst du auf dem Boden des Parteiprogramms oder nicht – das sind Scheindebatten, die eher vernebeln als klären. Und natürlich gab es in Göttingen auch Abgründe an politischer Kultur, die einem Teil der Delegierten Tränen in die Augen getrieben haben, weil sie einer sozialistischen Partei einfach zutiefst unwürdig sind. Es ist zu einem Teil aber auch eine falsche Analyse. Denn es gibt sehr grundlegende, wenn auch nicht unüberwindbare, Differenzen in unserer politischen Strategie über die wir reden müssen.

Es geht um die Art der Intervention in Politik: Wollen wir eine als falsch empfundene Politik dadurch ändern, dass wir sie selbst gestalten und so zum Akteur werden – oder dadurch, dass man sie skandalisiert, bestenfalls durch Druck von außen stört und den handelnden Akteuren die Möglichkeit nimmt, so zu handeln, wie sie es wollen? Was trauen wir uns zu?

Dieser Konflikt durchzieht die ganze Partei, alle Landesverbände und wohl fast auch alle Zusammenhänge und Gruppen von Mandatsträgern, Funktionären, Aktivistinnen und Aktivisten, Mitglieder. Die Frage ist dann immer nur, welche Linie wo dominiert und wo marginalisiert ist. Und wie sich die der Partei angehörenden Menschen in ihrer inneren Zerrissenheit im Zweifel entscheiden.

 

4.

Schon in der PDS gab es diesen Konflikt. Auch dort wurde er streckenweise so ausgetragen, dass er die Existenz der Partei gefährdete – manche erinnern sich noch deutlich an den Geraer Parteitag.

Schließlich haben wir versucht, die beiden Pole in diesem Konflikt nicht mehr als Antagonismus, als sich gegenseitig ausschließende Optionen einer strategischen Orientierung zu betrachten, sondern als Dinge, die zusammengehören. Das Ergebnis war seinerzeit die Leitidee vom »strategischen Dreieck«, die in den vergangenen Jahren immer mehr in Vergessenheit geriet.

Darum noch einmal zur Erinnerung: Wir haben unsere politische Strategie in drei Elementen beschrieben, die zusammengedacht, vor allem aber im Zusammenhang praktiziert werden müssen – durch eine kluge, auch arbeitsteilige, sich aber aufeinander beziehende politische Arbeit, in einem kollektiven Kraftakt. Diese drei Elemente bestanden aus

  • zum einen: gestaltender, an den Realitäten orientierter Politik, innerhalb der Kräftekonstellationen des Parteiensystems und innerhalb wie außerhalb der Parlamente,
  • zum zweiten Widerstand (insbesondere, aber auch nicht ausschließlich außerparlamentarisch) gegen aktuelle Missstände,
  • drittens: die Entwicklung programmatischer Alternativen über den Tag hinaus – die Analyse einer sich verändernden Welt, das bewusste Infragestellen und Überdenken althergebrachter Wahrheiten, um über die nächste Wahl und den Tellerrand des jeweiligen lokalen politischen Kontexts hinaus zu denken.

 

5.

Doch es geht beim Dreieck nicht nur um das Vorhandensein der drei Elemente, sondern um den Bezug, der zwischen ihnen bestehen muss. Sobald „eine Ecke“ verkürzt wird, verringert sich das politische Kraftfeld, das von dieser Idee ausgehen könnte. Ich formuliere das durchaus auch selbstkritisch, denn auch in Berlin haben wir es nicht vermocht, das Dreieck wirklich auszutarieren. Wir müssen lernen: Keine Seite kann allein gewinnen, alle müssen in Kopf und Bauch zusammenbringen, was die Partei sonst auseinander treibt. Radikalität im Denken und Realismus im Handeln – so hat es einer der jungen Delegierten in Göttingen formuliert.

 

6.

Liebe Genossinnen und Genossen,

was jetzt ansteht, ist folgendes: in spätestens 15 Monaten wird es eine Bundestagswahl geben. Nach aller Erfahrung mit Wahlkämpfen muss ich euch sagen, dass wir dramatisch spät dran sind mit unseren Vorbereitungen auf diese Wahl. Und gemessen an dieser Aufgabe war das, was wir Delegierten in Göttingen geleistet haben und objektiv leisten konnten, ein ziemlicher Flop. Das ist keine Delegiertenschelte, sondern eine sachliche Bestandsaufnahme der Parteitagsergebnisse.

Es ist in Göttingen nicht einmal im Ansatz deutlich geworden, um welches Projekt, um welchen Vorschlag, um welches Angebot nach außen sich die Partei im Wahlkampf scharren könnte, was Hirn und Herz entflammt und für welche praktische gesellschaftliche Konfliktbearbeitung und -lösung sie ihre Bataillone ins Feld führen will.

Diese Frage muss aber überzeugend beantwortet werden, wenn es auch nur einen bescheidenen Erfolg bei den Bundestagswahlen geben soll. Und in der Beantwortung dieses Frage liegt auch der Schlüssel zum Erfolg aller internen Integrationsabsichten, die jetzt vielfach zu hören sind und die, so denke ich, auch ernst gemeint sind und ernst genommen werden sollen. Nur: Integration gelingt nicht durch Beschwörung guter Sitten oder durch Formelkompromisse, sondern durch die Gewinnung eines gemeinsamen politischen Anliegens und einer gemeinsamen politischen Praxis.

Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass eine der ersten Maßnahmen der neuen Parteispitze die Einrichtung eines Blogs im Internet war, auf dem die Mitglieder aufgerufen werden, sich mit Vorschlägen und Ideen einzubringen. Das ist ein wichtiges Signal. Aber bei aller Sympathie für die Idee der Schwarmintelligenz – wir können uns nicht darauf verlassen. Wir müssen auch schnellstens arbeitsfähige Strukturen unter Beteiligung der Landesverbände schaffen. Das ist auch der Grund, warum vergleichsweise viele Berlinerinnen und Berliner dem Parteitag mit ihrer Kandidatur ein Angebot unterbreitet haben, das ja auch angenommen worden ist. Unser Berliner Landesverband spielt bei der kommenden Bundestagswahl eine ganz entscheidende Rolle. Wir müssen um jedes Direktmandat und um jede Zweitstimme kämpfen, liebe Genossinnen und Genossen. Wir dürfen der politischen Konkurrenz nicht den Triumph gönnen, DIE LINKE aus dem Deutschen Bundestag zu drängen!

 

7.

In meiner Vorstellung bei der Kandidatur zum Parteivorstand habe ich bereits auf ein Thema hingewiesen, aus dem sich ein solches Projekt entwickeln ließe. Wir führen ja derzeit immer noch die Kampagne zur Unterstützung des Volksbegehrens zur Rekommunalisierung der Energienetze. Bislang sind wir dabei gar nicht erfolglos. Weit über 4.000 Unterschriften sind mittlerweile allein bei uns in der Landesgeschäftsstelle abgegeben worden. Von nicht wenigen weiß ich, dass sie die von ihnen gesammelten Unterschriften auch gleich direkt an den Berliner Energietisch schicken.

Doch die Rekommunalisierung der Energienetze ist nicht nur ein Thema in Berlin, es ist auch eines in Hamburg. Es ist eines in vielen kleineren und größeren Kommunen in Ost wie in West. Beste Voraussetzungen also, es zu einem gemeinsamen Projekt in der Partei zu machen.

Wenn wir es schaffen, die »großen Themen«, wie Fiskalpakt und ESM, Schuldenbremse und kommunale Haushaltsnot, sozialökologischer Umbau versus Entkernung der Demokratie, in ihren Zusammenhängen von der lokalen bis zur globalen Ebene zu verbinden, es mit den praktischen Erfahrungen vieler Menschen zusammenzubringen, sichtbar zu sein – dann haben wir eine Chance, kraftvoll und gemeinsam in die Offensive zu kommen. Das unterscheidet uns dann auch von der SPD, die gestern, also kurz vor Toresschluss, auch noch die Unterstützung des Energievolksbegehrens beschlossen hat – nachdem ihre Senatoren bisher alles dafür tun, damit eine Rekommunalisierung keine Chance hat. Von NRW über Hamburg bis Berlin: DIE LINKE kann es schaffen, wenn wir uns auf das besinnen, was im Rahmen eines solchen strategischen Dreiecks an inhaltlich-politischen Optionen existiert.