Was bewegt die Menschen?

4. Parteitag, 4. Tagung

Wortmeldung von Bernd Ihme


[ Manuskript ]

 

Liebe Genossinnen, liebe Genossen,

ich möchte mich in 3 Punkten zu methodischen Gesichtspunkten des Antrags »Europa und Berlin in der Region« äußern.

Ich gebe der Beschlussvorlage »Europa und Berlin in der Region« meine Zustimmung, weil ich den Beschluss für eine gute Orientierung für unsere Arbeit während des Europawahlkampfes und darüber hinaus halte. Besonders gefällt mir, wie an das Thema herangegangen wurde. Entgegen oftmals praktizierter Herangehensweisen, bei denen zunächst in kompakter Weise und mit wortgewaltig-radikaler Sprache die Übel, Gebrechen und Gemeinheiten dieses Gesellschaftssystems dargestellt werden, ist hier ein anderer Ansatz gewählt worden.
Im Marxschem Sinne wird die Kritik an den gesellschaftlichen Missständen verbunden mit dem Aufzeigen von realen Möglichkeiten für das Eingreifen und Gestalten linker Politik hin zu positiven Veränderungen in unserer Stadt. Genau in diesem Sinne sprach auch Bernd Riexinger auf dem Hamburger Parteitag davon, dass DIE LINKE noch entschiedener ihre Gesellschaftskritik mit ihrem Gestaltungswillen verbinden und zum Ausdruck bringen muss.

Auf dem Workshop zum Entwurf sprach ich davon, dass ich mir noch etwas mehr Radikalität und »linken Biss« gewünscht hätte. Damit meinte ich nicht – mehr radikale Schlagworte und zugespitzte Losungen, sondern radikal im Sinne von: die Dinge noch genauer und konkreter »an der Wurzel packen« und ganz deutlich den linken Politikansatz hervortreten lassen.
Es zeigt sich heute, dass seit der Veröffentlichung erster Entwürfe an der Beschlussvorlage gründlich gearbeitet wurde. Viele Anregungen und Vorschläge wurden eingebracht, breit diskutiert und sind berücksichtigt worden. Und vor allem – das vorliegende Papier regt zu weiterer Beschäftigung und Präzisierung der Aussagen an.

Unser Parteiprogramm dient der Verständigung der Mitgliedschaft über die Grundsätze, Ziele, Werte und Optionen ihres Handelns. Es bezieht sich auf einen längeren Zeitraum.

Im Wahlprogramm und anderen strategischen Papieren – wie dem hier vorliegenden – geht es jedoch um konkrete Angebote linker Politik für einen ganz bestimmten Zeitraum. Und es geht vor allem um Angebote und Aufforderungen an Wählerinnen und Wähler, dass sie unsere Partei wählen sollen. Wir wollen möglichst viele Wählerinnen und Wähler aus allen Schichten, Gruppen und Milieus der Bevölkerung für unsere Politik gewinnen. Deshalb brauchen wir sowohl Angebote, die breite Zustimmung finden, als auch differenzierte Angebote, mit denen wir ganz bestimmte Wählerschichten erreichen können. Ich denke hier besonders an die, die aufgrund ihrer sozialen Situation (Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung) an den Sinn von Wahlbeteiligung nicht mehr glauben und nicht mehr zur Wahl gehen.

Grundanliegen und differenzierte Angebote – das muss sich dann aber auch in Gestaltung und Sprache unserer Materialien ausdrücken.

Wir sollten uns stets konkret fragen: Was bewegt die Menschen um uns herum wirklich? Wie denken sie über die gegenwärtige politische Situation und deren Akteure? Wie verständlich müssen wir sein, um diese Menschen wirklich zu erreichen? Gewaltige Schlagwort-Kanonaden und äußerst zugespitzte Formulierungen – auch wenn sie einen wahren Kern beinhalten – wirken bei nicht wenigen Bürgerinnen und Bürgern in der Öffentlichkeit eher abstoßend, als dass sie zu mehr Vertrauen in unsere Politik beitragen. Wir dürfen nicht permanent den Eindruck entstehen lassen, dass wir Menschen vor allem belehren und erziehen wollen – wir müssen sie vor allem für unsere Politik gewinnen wollen.
In diesem Sinne halte ich die Art und Weise, wie im vorliegenden Beschlussentwurf an die Charakterisierung der politischen Realität unserer Stadt und der Region in Bezug auf Europa herangegangen wird, als gelungen und für weitere Debatten für anregend.

Der Beschluss »Europa und Berlin in der Region« ist eine strategische Orientierung für unsere konkrete Parteiarbeit über die EU-Wahl hinaus. Das bedeutet aber auch, dass es nicht ausreicht, heute einen Beschluss zu fassen und zu veröffentlichen und dann abzuwarten, was daraus wird.

Gebraucht wird in den Vorständen aller Ebenen unseres Landesverbandes vielmehr ein Konzept, wie der Beschluss vor Ort in politische Praxis umgesetzt werden soll. Es geht darum, genau zu planen und politisch tatsächlich zu führen. Ich kann mich ja irren, aber ich glaube, manchmal hat es in der Vergangenheit vielerorts an solch einer konkreten Kärrnerarbeit etwas gemangelt.

Zu berücksichtigen wären meiner Meinung nach solche Fragen:

  • Welche der im Beschluss enthaltenen Aufgaben werden wann, wie und wo konkret umgesetzt?
  • Über welche Argumente verfügen wir eigentlich, um vor Ort einzelne Aufgabenstellungen überzeugend zu verdeutlichen?
  • Mit wem wollen wir was, wann, wo gemeinsam angehen? Wer sind unsere Ansprechpartner auf Landes, aber auch auf Bezirksebene, in den Gewerkschaften, Vereinigungen, Kirchen, Organisationen und Parteien? Und wer in den Vorständen kümmert sich konkret um solche Kontakte und pflegt sie?
  • Mit welchen Problemen, anderen Sichtweisen und Meinungen, mit welchen Widersprüchen werden wir konfrontiert und wie verhalten wir uns dazu? Das muss vorher bedacht und einkalkuliert werden Dazu zählt auch Klarheit in der Frage, wo sind wir zu Kompromissen bereit und wo nicht? Denn Politikfähigkeit drückt sich gerade darin aus.
  • Wir brauchen weiterhin offene Debatten und anregende Diskussionen zur Realisierung unserer Vorhaben.

Das alles kann nicht dem Selbstlauf überlassen werden.

Mit der Verabschiedung dieses Beschlusses steht meiner Meinung nach die harte Alltagsarbeit zu seiner Umsetzung erst vor uns.

Es gibt also viel zu tun – packen wir es an!