LINKE diskutiert Gretchenfrage

Das Neutralitätsgesetz bleibt umstritten, auch die Sozialisten suchen nach Antworten

Berlin, sag, wie hältst du’s mit der Religion? Was den Öffentlichen Dienst betrifft, war diese Frage bisher eindeutig beantwortet: Angestellte des Staates, beispielsweise Richter*innen, Polizist*innen und Lehrer*innen an allgemeinbildenden Schulen, dürfen bei der Arbeit keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole tragen. Darunter fallen zum Beispiel Kreuze, Kippas, Turbane und Kopftücher, sowie Kleidung mit politischen Statements oder Symbolen. So schreibt es das Berliner Neutralitätsgesetz seit 2005 vor.

Spätestens seit den Klagen mehrerer muslimischer Lehrerinnen, die ihr Kopftuch während des Unterrichts nicht ablegen wollen, hat sich die Diskussion um das Gesetz in eine Kopftuch-Debatte verwandelt, die auch in der gesellschaftlichen Linken seitdem für Kontroversen sorgt. Die Linkspartei, in der es zu diesem Thema ebenfalls unterschiedliche Ansichten gibt, hat dazu nun eine Informations- und Diskussionsreihe initiiert.

»Das Gesetz garantiert staatliche Neutralität da, wo Menschen der Staatsgewalt nicht ausweichen können, sei es vor Gericht, bei der Polizei, im Justizvollzug oder an allgemeinbildenden Schulen«, heißt es in einer Erklärung der Initiative PRO Neutralitätsgesetz. Es sei damit für den gesellschaftlichen Frieden in der Stadt »unabdingbar«. Eine der Unterzeichner*innen dieser Erklärung ist Gita Neumann vom Humanistischen Verband Deutschland. Für sie ist die Säkularität des Staates ebenfalls ein »unabdingbares Gut«, welches durch das Gesetz geschützt wird, wie sie bei der Auftakt-Veranstaltung am Freitagabend in der Alten Feuerwache in Kreuzberg sagte. Befürworter*innen argumentierten im Zusammenhang mit religiösen Symbolen in der Schule oft, dass Kinder in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Lehrer*innen stehen. Ein Kopftuch oder eine Kippa könnten Schüler*innen das Gefühl vermitteln, aufgrund ihrer eigenen Religionszugehörigkeit anders behandelt oder benotet zu werden, sagte Neumann. Die Schule müsse ein weltanschaulich neutraler Raum sein, damit Kinder unbeschwert lernen können.

Für Podiumsteilnehmer Tom Erdmann, Vorsitzender der Bildungsgewerkschaft GEW, ist die Schule ohnehin kein neutraler Raum. Schon der Ferienkalender richte sich nach christlichen Feiertagen. »Vielfalt ist das, was Neutralität noch am nächsten kommt«, sagte Erdmann.

Die Juristin und Leiterin eines Anti-Diskriminierungsprojekts des Vereins »Inssan«, Zeynep Cetin, die ebenfalls auf dem Podium saß, hat als Beraterin bereits mit mehreren Muslima gearbeitet, denen aufgrund ihres Kopftuchs die Arbeit an öffentlichen Schulen verwehrt wurde. Für Cetin werden Kopftuch tragende muslimische Frauen durch das Gesetz diskriminiert. »Qualifizierte Pädagoginnen können sich auch mit Kopftuch neutral verhalten«, sagt sie. Dafür, dass viele das Kopftuch als ein Symbol für die Unterdrückung der Frau sehen, könnten die Betroffenen nichts. Sie selbst trage ihr Kopftuch freiwillig. »Und selbst wenn es so wäre, dass das Kopftuch ein Zeichen der Unterdrückung wäre«, so Cetin, »verschlimmert das Neutralitätsgesetz die Lage der Frauen noch, indem es ihnen zum Beispiel finanzielle Unabhängigkeit verwehrt« - wenn sie nämlich dadurch an der Ausübung eines Jobs gehindert werden.

Fürsprecher*innen des Neutralitätsgebots wie Neumann widersprechen dem Diskriminierungsargument gern damit, dass das Gesetz für alle Religionen gleichermaßen gelte. Allerdings gibt es nicht in jeder Religion Kleidervorschriften, die die Gesinnung so deutlich machen.

Letztendlich dreht sich die Debatte um Religion im Klassenzimmer im Kreis – in den Medien, der Gesellschaft und auch zwischen den Diskutierenden in der Alten Feuerwache. Selbst wer es nicht als Diskriminierung ansieht, wenn Muslima mit Kopftuch nicht als Lehrerinnen an öffentlichen Schulen und Juden mit Kippa nicht als Richter in Berlin arbeiten können, so ist dies doch unleugbar eine Einschränkung der Berufswahl der Betroffenen. Wenn sie stattdessen die Kleidungsvorschriften ihres Glaubens missachten, um für den Staat zu arbeiten, schränkt dies ihre Religionsfreiheit ein. Letztlich müssen alle Akteure abwägen, ob sie bereit sind, im Namen der - wohlgemerkt ebenfalls symbolischen – staatlichen Neutralität diese Einschränkung für bestimmte Gruppen in Kauf zu nehmen oder nicht.

 

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