Position der LAG Gesundheit und Pflege zur aktuellen COVID-19-Lage

Die Pandemie mit dem neuartigen SARS-CoVirus-2 stellt soziale Sicherungssysteme und insbesondere das Gesundheits- und Pflegesystem vor Herausforderungen, die so noch nie in der Nachkriegsgeschichte da waren. Die Bewältigung dieser Krise hängt maßgeblich davon ab, ob es weiter gelingt, die Akzeptanz der Bevölkerung für notwendige Maßnahmen des Infektionsschutzes durch planvolles Handeln, Transparenz und nicht zuletzt demokratischen Diskurs zu sichern. Diese Epidemie ist eine Zumutung für viele Menschen und eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Es müssen schwierige Abwägungen und bittere Entscheidungen getroffen werden – gleich, für welchen Weg man sich entscheidet. Bislang ist diese Zustimmung auch in der Wähler*innenschaft der LINKEN hoch – nicht zuletzt eine Folge einer im Großen und Ganzen stimmigen Abwägung zwischen Gesundheitsschutz, beschränkenden Maßnahmen und staatlichen Hilfspaketen. Die Maxime Der LINKEN »Gesundheit vor Profite« ist hier einzuordnen. Wir müssen klare Kante gegenüber rechten und verschwörungsmythischen Gruppen zeigen. Doch klar ist auch: Es ist nicht die Zeit für parteipolitische Strategiespiele.

Die Erfahrungen aus dem europäischen Ausland zeigen, welche dramatischen Auswirkungen die Überlastung insbesondere der intensivmedizinischen Kapazitäten hat. Wenn Regierungen oder Parlamente, oder noch schlimmer, wenn das Gesundheitspersonal entscheiden muss, wer leben darf, ist das eine Zerreißprobe für die ganze Gesellschaft. Diese Situation muss unter allen Umständen verhindert werden.

Wenn sich die Krankenhäuser füllen, ist es für wirksame Gegenmaßnahmen allerdings zu spät. Das Ausbruchsgeschehen verläuft ohne wirksame Gegenmaßnahmen immer exponentiell. Selbst ein radikaler Lockdown zeigt seine Wirkung erst nach 10-14 Tagen – eine viel zu lange Zeit im Epidemieverlauf, aber eine zu kurze, um ambulante und stationäre Versorgungsstrukturen materiell und personell wappnen zu können. Wie immer mehr Studien belegen, kann COVID19 auch für junge Menschen ohne Vorerkrankungen eine Multiorganerkrankung mit erheblichen Langzeitfolgen darstellen. Auch deshalb ist der alleinige Blick auf die Intensivbetten nicht hilfreich. Die Eindämmung der Virusverbreitung und damit die Reduktion der Zahl der Neuinfektionen ist daher notwendig, wenn die gesundheitlichen Folgen des Virus insgesamt begrenzt werden sollen.

Die Eindämmungsstrategie ist aber auch notwendig, um die Risikogruppen bestmöglich vor einer Infektion zu schützen. Der von einigen Akteuren vorgebrachten Strategie des besonderen Schutzes dieser Menschen bei gleichzeitig wenig beeinträchtigter Gesamtgesellschaft, liegen mehrere Fehlannahmen zugrunde. So ist es etwa Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen, von Behinderteneinrichtungen etc. nicht zumutbar, auf unbestimmte Zeit von ihren Mitmenschen isoliert zu werden. Der erste Lockdown hat gezeigt, dass dies gerade für hochaltrige Menschen eine unverhältnismäßige Einschränkung mit gravierenden Folgen für die soziale Teilhabe darstellt. Der Ansatz funktioniert auch deshalb nicht, weil zwangsläufig Kontakt mit dem Personal entsteht und hier auch mit regelmäßigen Tests keine vollständige Sicherheit gegeben werden kann. Die Menschen mit hohem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf können nur auf menschenwürdige Weise geschützt werden, wenn die Gesellschaft als Ganzes versucht, die Zirkulation des Virus wirksam zu begrenzen.

Nicht zuletzt ist eine gesamtgesellschaftliche Eindämmung notwendig, um diejenigen zu schützen, die an vorderster Stelle bei der Versorgung und Betreuung von kranken oder pflegebedürftigen Menschen arbeiten.

Die im Vergleich mit den umliegenden Ländern zahlenmäßig gute Ausstattung der Krankenhäuser in Deutschland mit Intensivbetten brachte sie zu Beginn der Pandemie, trotz des Mangels an Personal und an Ausstattung mit Schutzkleidung, scheinbar in eine relativ gute Ausgangsposition. Dennoch offenbarten sich schnell die Defizite, die über Jahrzehnte neoliberaler Eingriffe in das Gesundheitswesen entstanden sind. Die kurzfristige Orientierung an Profitabilität und der in einem qualitativen Unterbietungswettbewerb mündende Konkurrenzkampf mit privaten Investoren, ausgetragen unter dem Diktat eines auf der Vergütung kostenintensiver und technischer Leistungen basierten Abrechnungssystems, haben Fürsorge und Weitsicht aus dem stationären Sektor weitgehend eliminiert. Wegen unzureichender Investitionen der staatlichen Träger in die Krankenhausinfrastruktur wurden über Jahre Erlöse aus den Krankenkassenabrechnungen, die eigentlich vor allem für Personal vorgesehen sind, in dringend notwendige Bau- und Infrastrukturmaßnahmen umgeleitet. Eine nachhaltige Personalentwicklung war weder im Bereich der Pflege noch im Bereich des ärztlichen Dienstes möglich. Während der Pflegenotstand und die unhaltbaren Arbeitsbedingungen in der Pflege überall offensichtlich geworden sind, hat sich auch im ärztlichen Bereich eine Notsituation entwickelt, die durch extreme Arbeitsverdichtung, medizinische Flickschusterei und das Wegbrechen des fachärztlichen Mittelbaus gekennzeichnet ist. Eine qualifizierte Krankenbetreuung ist gefährdet und eine strukturierte ärztliche Weiterbildung findet in weiten Bereichen nur noch auf dem Papier statt.

Die politischen Reaktionen auf die Pandemie setzten im Berliner Krankenhaussektor wirtschaftliche Fehlanreize: Freihalte- und Ausfallprämien ließen es vielerorts lukrativer erscheinen, dringend benötigte Krankenhausbetten der Regelversorgung und im Rehabilitationsbereich leer stehen zu lassen, als sie weiter zu betreiben. Politische Symbolhandlungen, wie der Aufbau eines angesichts des fehlenden Personals nie betreibbaren Notkrankenhauses und der Ankauf von Millionen Schnelltests fraglichen Nutzens binden Mittel, die anders besser eingesetzt wären. Prämien an Krankenhäuser für die Aufstellung von Intensivbetten verschlangen Unsummen und ließen auch hier den Mangel an qualifiziertem oder qualifizierbarem Personal außer Acht. Während manche Häuser gerade im Bereich der privaten Träger den lukrativen Elektivbetrieb kaum einschränkten, war die gemeinwohlorientierte Gesundheitsversorgung gezwungen, alle personellen Ressourcen für die Bewältigung der Pandemiefolgen zu mobilisieren. Die entstandenen ökonomischen Defizite verstärkten die finanzielle Schieflage der Häuser. Anstelle einer Verstetigung der Vorbereitungen für eine zweite Welle, mussten in den wertvollen Sommermonaten alle Kräfte mobilisiert werden, um das wirtschaftliche Überleben sicherzustellen.

In der häuslichen, ambulanten und stationären Langzeitpflege sind Menschen mit Pflegebedarf, ihre Angehörigen und die Beschäftigten in den Diensten und Einrichtungen besonders von der Pandemie betroffen. Die verheerenden Folgen von Infektionswellen in Pflegeeinrichtungen sind bekannt.  Zugleich ist sehr deutlich geworden, dass Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen stark unter Kontakteinschränkungen und -verboten leiden. In dieser Situation braucht es die volle politische Rückendeckung und verlässliche Maßnahmen, damit in der Praxis ein Zusammenspiel von größtmöglichem Infektionsschutz und dem Bedürfnis nach sozialem Kontakt und Teilhabe gelingt. Dabei muss dringend an die häusliche Pflege gedacht werden. In Berlin leben fast 80 Prozent der Menschen mit Pflegebedarf zu Hause. Sie werden überwiegend von Angehörigen betreut und gepflegt. Seit Beginn der Pandemie kämpfen sie mit wegbrechenden Hilfen und Unterstützungsleistungen. Das führt oft zu steigenden Belastungen und noch schlechterer Gesundheit als vor der Pandemie. Trotzdem taucht die häusliche Pflege in den Maßnahmen zum Infektionsschutz kaum auf. Auch nicht in der Berliner Teststrategie! Hier braucht es dringend mehr Unterstützung.

Wir sehen, dass die erforderlichen Maßnahmen trotz staatlicher Hilfen viele Menschen in außerordentlich schwere Situationen bringen. Selbstverständlich sind wir als LINKE besonders sensibel gegenüber Grundrechtseinschränkungen, etwa der Versammlungsfreiheit. Solch grundlegende Eingriffe sind aus politischen, aber auch aus verfassungsrechtlichen Gründen in den direkt gewählten Parlamenten zu treffen. Viel zu lange hat die Exekutive nun schon tiefgreifende normative Entscheidungen selbst getroffen. Das ist nicht nur ein verfassungsrechtliches Problem (Wesentlichkeitstheorie des BVerfG). Es beschädigt auch die politische Debattenkultur schwer, dass es keine Debatten mit unterschiedlichen Fraktionen, keine öffentlichen Anhörungen mit Expert*innen unterschiedlicher Einschätzung, keine Konfrontation unterschiedlicher Auffassungen mit demokratischen Spielregeln gibt. Noch stärker als vorher spielt sich legitimer wie destruktiver Widerstand hauptsächlich in den Blasen der sozialen Medien ab. Wir fordern die Partei und die Fraktion auf, sich vehement für die Herstellung des Parlamentsvorbehalts bei wesentlichen pandemiebezogenen Entscheidungen einzusetzen.

So sehr wir DIE LINKE in der Pflicht sehen, in der Krise gesellschaftliche Verantwortung gerade für die Schwächsten der Gesellschaft zu übernehmen, so entschieden sollte sie dabei die Ursachen für Fehlentwicklungen benennen, mit denen wir momentan zu kämpfen haben. Der Personalmangel und die niedrigen Löhne in der Pflege, die Profitinteressen in der Langzeitpflege, die systematische Ausbeutung von Familien im Pflegesystem, die Privatisierung der Krankenhäuser, das Fortbestehen eines im Kern wettbewerblichen Vergütungssystems, das auch öffentliche und freigemeinnützige Kliniken in die Wirtschaftlichkeitsfalle treibt, der fast vollständig private ambulante Sektor, der ein koordiniertes gemeinwohlorientiertes Handeln kaum möglich macht, profitorientierte Arzneimittelentwicklung, fehlende internationale Solidarität bei der Verfügbarkeit von Therapien und Präventionsmaßnahmen – die Coronakrise ist auch ein Brennglas auf viele Missstände im Gesundheitswesen. Sie müssen jetzt benannt und vehement problematisiert werden, damit eine Debattenverschiebung in der Zeit nach der Krise möglich ist.