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Türkei-Wahl: Schlag gegen alle progressiven Kräfte

Deniz Seyhun und Tarek Shukrallah zum Ausgang der Türkei- Wahl.

 

In der Türkei ist der Autokrat Recep Tayyip Erdogan als Staatspräsident knapp wiedergewählt worden. Das Ergebnis ist ein harter und beängstigender Schlag gegen alle progressiven Kräfte in der Türkei, und ist nicht zuletzt auch eine massive Bedrohung für die gesamte Region.

Der Sieg Erdoğans war nur möglich, weil er demokratische und rechtsstaatliche Fundamente abgeschafft und ein System zu seinen Gunsten erschaffen hat. Die Medien sind fasst unter der kompletten Kontrolle der Regierung. Während des Wahlkampfes und auch sonst gibt es quasi eine Dauerbeschallung der Regierung, welche auch hierzulande konsumiert wird. Freier Journalismus ist unmöglich und wird geahndet. Selbst bei Straßenreportagen müssen die Menschen Konsequenzen fürchten. Mediale Auftritte der Oppositionellen gab es nur vereinzelt. Einem gemeinsamen öffentlichen Auftritt der beiden Spitzenkandidaten ist Erdogan ausgewichen.

Schon unmittelbar nach seiner Wiederwahl hat Erdogan deutlich gemacht, dass sein Wahlsieg eine Kampfansage ist. Betroffen sind alle, die nicht in sein islamistisches Weltbild passen. Oppositionelle Kräfte, wie die HDP (Demokratische Partei der Völker, im Wahlkampf YSP) und auch die TİP (Arbeiterpartei der Türkei) brauchen jetzt stärker als zuvor unsere Solidarität. Wer dieser Tage Erdoğan zur Wahl gratuliert, unterstützt damit ein Regime, das Oppositionelle unterdrückt und Menschenrechte missachtet. Gleichzeitig zeigen sich die gleichen Politiker*innen empört über die Anhängerschaft Erdogan’s in Deutschland.

Außerhalb der Türkei hat Deutschland die weltweit größte türkische Community vorzuweisen – mit rund drei Millionen Menschen, wovon die Hälfte in der Türkei nicht wahlberechtigt ist. Wie so oft wird aus der Mehrheit der Wählenden eine „Mehrheit der Deutsch-Türken“ gemacht. Von den Türkeistämmigen in Deutschland beteiligt sich nur ein Viertel an türkischen Wahlen. Die Hälfte vom Rest der verbliebenen wahlberechtigten „Deutsch-Türken“ wiederum verzichtet komplett darauf, ihre Stimme bei einer Türkei-Wahl abzugeben. Studien legen nahe, dass diese über zwei Millionen türkeistämmigen „Nicht-Wähler" das Programm und die Ziele Erdoğans mehrheitlich ablehnen. Tatsächlich machen die knapp 500.000 (65 Prozent von 750.000) Erdoğan-Wählenden weniger als 17 Prozent der Türkeistämmigen in Deutschland aus.

In Berlin zeigt sich ein noch knapperes Bild als in der Türkei und beispielsweise im Ruhrgebiet: hier kam Erdogan nach Auszählung aller Stimmen in Berlin auf 51,5 Prozent, Kilicdaroglu auf 48,5 Prozent. Insgesamt 101.000 Menschen mit türkischem Pass waren stimmberechtigt. Am Ku‘damm feierten Anhänger Erdogans den Wahlsieg ihres Wunschkandidaten mit Autokorsos. Rund um Zoo und Tauentzien ragten überall der Wolfsgruß und die vier Finger der Muslimbrüder aus den Autos. Auf dem angrenzenden Breitscheidplatz hatten sich in der Spitze schließlich bis zu 1.000 Menschen versammelt.

Das mag an der Kompensierung ihrer Abwertungserfahrungen durch die Mehrheitsgesellschaft liegen und an der systematischen Akquise durch das bestens organisierte AKP-Netzwerk. Die religiös-konservativen Milieus sind in deutschlandweit überproportional vertreten und gut organisiert, was ihre Mobilisierung erleichtert. Die rechtsextreme und rechtspopulistische Herausforderung hat viele Gesichter. Innerdeutsch zeigen sich die Langzeitfolgen unterschiedlicher Herkünfte, wie etwa der Vergleich von Ruhrgebietsstädten mit Berlin zeigt, wo mehr Zugewanderte aus westtürkischen Metropolen und auch diversere Türkeistämmige leben, wodurch das Wahlverhalten entsprechend anders ist.

Die massiven Anstrengungen aller linken, progressiven und liberalen Kräfte, Erdogan zu verhindern und für einen Wandel zu streiten, dürfen nicht vergebens gewesen sein. Erdogan’s Wahlsieg führt weiterhin zu einer Talfahrt der türkischen Wirtschaft. Zusammen mit den politischen Repressionen werden weiterhin junge gut ausgebildete Menschen aus der Türkei nach Berlin kommen.

Unsere Stadt kann von dieser Zuwanderung nur profitieren. Das gilt auch für die türkeistämmigen Berliner*innen, die anders denken als die, die Erdogan gewählt haben.

Deniz Seyhun und Tarek Shukrallah, Mitglieder des Landesvorstands