Dieses Erbe sollte man nicht ausschlagen
Veranstaltung des Berliner Landesverbandes der LINKEN zum 90. Jahrestag der Oktoberrevolution
Rede von Prof. Dr. Lothar Bisky, Vorsitzender der Partei DIE LINKE
Liebe Freunde, Genossinnen, Genossen!
Geschichte ist offen.
Stefan Bollinger hat uns, angesichts des 90. Jahrestages der Oktoberrevolution jüngst an folgendes erinnert: Diese Offenheit gilt nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit. Was soll das bedeuten?
Dass die Geschichte der verschlossenen Archive eine andere ist, als die einer ernsthaften öffentlichen Debatte, ist uns bewusst. Dass Geschichtsschreibung genauer wird, wenn ausschließlich der Fakt des historischen Scheiterns zum schlagenden Beweis einer folgerichtigen Fehlentwicklung wird, das bezweifle ich mehr und mehr.
Schauen wir auf vorangegangene Revolutionen in Europa. Dann stellen wir fest:
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind uneingelöste Ideale. Sie sind – bis auf ihre überholte patriachale Enge – ein unangefochtener Bezugspunkt europäischen Denkens der Neuzeit.
Niemand käme daher auf die Idee zuerst ein historisches Scheitern der Französischen Revolution zu proklamieren und die Einführung der Guillotin oder der Napoleonischen Kriege vor der Anerkennung der revolutionären Idee und der Nationalversammlung zu sezieren. Geschichte ist offen.
Diese Sicht auch für die Rückschau zu proklamieren, erneuert den Anspruch, die Hoffnungen und Irrwege, die sich mit dem weltgeschichtlichen Wirken der Oktoberrevolution verbinden auf die offenen Fragen des Denkens von politischen Alternativen heute zu konzentrieren.
Ich halte diesen Anspruch nicht nur für legitim. Er ist – angesichts des proklamierten Endes der Geschichte – nicht eingelöst und muss neu erhoben werden. In dieser Hinsicht hat die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts enorme Schätze vorgelegt.
Es ist müßig die Frage zu stellen, was Eisenstein und Brecht, Schostakowitsch und Schatrow ohne die Oktoberrevolution geschaffen hätten. Ohne die offenen Fragen der Oktoberrevolution nach einer menschlichen Gesellschaft ist die Kunst des 20. Jahrhunderts nicht denkbar. Ob die Geschichtsschreibung und die politische Öffentlichkeit jemals diese Offenheit der Fragen und auch die Offenheit der Auseinandersetzung selbst erreicht haben, wage ich zu bezweifeln.
Dies mag allein der Streit um Schatrows Stück »Weiter, weiter, weiter« beweisen, welches in der DDR zwar nie erschien, aber von drei sowjetischen Historikern im Zentralorgan umfassend abqualifiziert wurde. Wenn Michael Schatrow in seinem Stück die Sozialrevolutionäre, Menschewiki und Bolschewiki in einen Art Gruppe der anonymen Revolutionäre fiktiv an einen Tisch setzt, so haben wir einen Kunstgriff im wahrsten Sinne des Wortes vor uns.
Der Ruf nach Frieden und Brot bewegte, versammelte und aktivierte viele Menschen nach der Revolution vom Februar 1917 in Russland. Diese Sehnsucht – geboren aus den Schlachten des Weltkrieges, erhofft mit der Februarrevolution, übertönte und überlagerte die ersten bürgerlich-demokratischen Errungenschaften. Dieser Ausgangspunkt bestimmt Lenins Aprilthesen, diese Hoffnungen trugen die Oktoberrevolution.
Dies ist auch nach 90 Jahren in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.
Antworten auf den Sinn breitester demokratischer Mitbestimmung, auf die soziale Frage und die Friedensfrage können im Denken über gesellschaftliche Alternativen nicht nebeneinander, hintereinander oder nacheinander gestellt werden. Sie gehören untrennbar zusammen.
Dieses Denken muss nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus 1989/90 in Europa sowohl unsere historische Auseinandersetzung umfassend ergreifen, als auch unsere politischen Alternativen prägen.
Am Morgen des 9. Mai 2004 wurde die neu gegründete Partei der europäischen Linken in der italienischen Presse begrüßt: Da hieß es: »Adio Stalismo«. Doch es muss einer pluralen Linken heute um viel mehr als um die Verurteilung stalinistischer Verbrechen gehen. Dass Versagen des Staatsozialismus auf den Terror und die Machtrekonstruktion Stalins, auf den politischen Autokratismus einer Parteinomenklatura reduzieren, die ihren Avantgardeanspruch immer von neuem historisch tief begründet sah, reicht längst nicht mehr aus. Wir würden damit der Dimension einer Umwälzung wie der Oktoberrevolution nicht wirklich näher kommen. Wir müssen – so nochmals Stephan Bollinger – die Rolle physischer und struktureller Gewalt vor, während und nach einem geschichtlichen Ereignisses wie der Oktoberrevolution, die de facto zwischen zwei Weltkriegen beginnt, viel genauer untersuchen.
Hobsbawn bezeichnet die Oktoberrevolution als Kind des ersten Weltkrieges. Sie ist eine der Antworten auf das Völkergemetzel des ersten Weltkriegens. Und sie hat dabei eine solche Fülle von Fragen hinterlassen, die sich mit den Ereignissen 1989/90 in Europa
nicht erledigt haben, sondern sich schon ein Jahr später 1991 mit dem zweiten Irak-Krieg erneut deutlich stellten. Krieg ist mit dem beginnenden 21. Jahrhundert wieder zum Mittel weltweiter, aber insbesondere westlicher Großmachtspolitik geworden.
Die Sehsucht nach Demokratie und Frieden kann man nicht politisch auseinanderdividieren ohne beides letztendlich als Zerrbild seiner selbst verkommen zu lassen.
Das moralische Bindeglied bleibt die soziale Frage, deren Beantwortung ohne Demokratie und Frieden nicht funktionieren werden.
Das hat ein offener Blick in vergangene Geschichte, eine kritische Würdigung der Oktoberrevolution längst gelehrt.
Ich habe es schon angedeutet. Wir haben es wohl mehr den Künstlerinnen und Künstlern zu verdanken, dass diese Lehren lebendig geblieben sind und lebendig bleiben. Zumindest sind Theaterstücke, Filme, Literatur und Musik ein Beleg dafür, dass es so etwas wie Macht ohne Herrschaft gibt, weil ein Angebot zur Kommunikation und zum Handeln, die Selbstbestimmung des anderen mitdenken kann und will.
Deshalb möchte ich abschließend auf einen interessanten historischen Konflikt aufmerksam machen: Schaut man auf die Debatten zwischen Politik und Kultur in der frühen Sowjetunion und auch in die 50erJahre der DDR, so fällt einem auf, dass sich die selbsternannten politischen Avantgarden und die linken Künstlerinnen und Künstler gegenseitig Formalismus vorwarfen. Warum ausgerechnet Formalismus? Vielleicht können uns diese interessantesten Debatten dabei unterstützen, Revolutionen als Transformationen neu zu denken.
Deshalb begrüße ich ganz besonders die Art der Begegnung, die wir heute anlässlich einer Würdigung der Oktoberrevolution gewählt haben. Wenn Luxemburg und Gorki,
Geschichtswissenschaft und Musik aufeinander treffen, dann kann das für alternatives politisches Denken nur gut sein.
Lasst mich abschließend festhalten: Meinen Bekannten in Moskau habe ich versichern können, dass wir sehr wohl wahrnehmen, dass ihr offizieller Feiertag im November jetzt »Tag der nationalen Einheit« heißt und die Befreiung Moskaus von polnischer Herrschaft im Jahre 1612 würdigen soll.
Meine Freunde vom Film, vom Theater sind froh, dass wir die Auseinandersetzungen um Schatrows »Weiter, weiter, weiter« nicht vergessen haben. Sie würdigen ihren 7. November – die Oktoberrevolution – trotzdem und sie sind damit nicht allein, denn es ist internationales historisches Datum, mit dem die unendliche Hoffnung und härtestes Kritik linken Denkens aufs engste verbunden.
Dieses Erbe sollte man nicht ausschlagen.