Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!

Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS

Rede von Prof. Dr. Michael Schumann auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED/PDS am 16. Dezember 1989 in der Dynamo-Sporthalle in Berlin


Was jetzt zum Vortrag kommt, liebe Genossinnen und  Genossen, ist das Ergebnis der Tätigkeit einer Arbeitsgruppe, die unter Verantwortung des Arbeitsausschusses bzw. Vorstandes relativ sehr kurzfristig – wie könnte es anders sein – gearbeitet hat. Es ist dementsprechend das, was hier vorgetragen wird, als ein erster und vorläufiger Versuch der Analyse zu werten. Die theoretisch-ideologische Bewältigung eines so komplizierten und komplexen Problems wie die Frage nach den Ursachen der Krise und die Verantwortung der SED, fordert den Einsatz des ganzen intellektuellen Potentials der Partei und bleibt eine Aufgabe, der wir uns auch in Zukunft mit aller Kraft stellen müssen, um zu weiteren Schlußfolgerungen für die radikale Erneuerung der Partei zu gelangen.

Dennoch – es ist notwendig, auf diesem Parteitag Stellung zu den Ursachen der Krise zu beziehen. Das erwartet die Parteibasis, aus der uns auch viele Hinweise und Gedanken zu diesem Thema zugegangen sind, und das erwartet mit Recht auch die Öffentlichkeit unseres Landes.

Unser Parteitag hat schon am ersten Beratungstag mit Nachdruck erklärt: Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System.

Uns allen hier im Saal – dem einen früher, dem anderen später – ist bewußt geworden, daß für die Krise unseres Landes und unserer Partei die Mitglieder einer inzwischen hinweggefegten Parteiführung die persönliche Verantwortung tragen.

Erich Honecker und sein Politbüro konnten vor allem deshalb einen derartigen Schaden anrichten, weil ein Geflecht von Strukturen allgegenwärtiger Apparate und eine Rechtfertigungsideologie einen derartigen Machtmißbrauch ermöglichten bzw. absegneten.

Die Symptome dieses Machtmißbrauchs liegen inzwischen offen zutage: Konzentration der Macht in den Händen eines arroganten Alleinherrschers, Steuerung der Wirtschaft durch eine Kommandozentrale, der es an Verständnis für elementare Bedürfnisse der produktiven und sozialen Bereiche der Gesellschaft und für die Lebensqualität der Bevölkerung fehlte, Reglementierung und bürokratische Zentralisation von Kultur, Wissenschaft und Bildung, die kritische Geister außer Landes trieb, politische Entmündigung der Bürger unserer Republik und Kriminalisierung Andersdenkender, Verwandlung der Medienlandschaft in eine trostlose Informationswüste und eine widerliche Hofberichterstattung, Ausgrenzung der Parteibasis aus allen innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen.

Im Umfeld dieses Machtmißbrauchs breitete sich der Morast der Korruption und der persönlichen Bereicherung aus. Unerträgliche Herrscherallüren einer Führungsgruppe und mancher Nacheiferer auch auf unterer Ebene haben unsere Partei in Verruf gebracht. Zwischen Führung und Volk, zwischen Parteispitze und Parteibasis tat sich eine tiefe Kluft auf. Aus einzelnen und aus Gruppen, die auf Veränderungen drängten, wuchs eine umfassende Volksbewegung. Sie forderte ihre Rechte auf der Straße ein, als das Land an einer Massenflucht zu Grunde zu gehen drohte.

Die Bewegung zur Erneuerung des Sozialismus ist ihrem Wesen nach eine revolutionäre Bewegung. Die Politbürokraten verunglimpften den Aufbruch des Volkes als Konterrevolution und wollten ihn mit Gewalt unterdrücken. In Wirklichkeit waren sie in dieser Situation die Konterrevolutionäre.

Viele Persönlichkeiten – Künstler, Arbeiter, Schriftsteller und Wissenschaftler und unter ihnen auch viele Mitglieder und Funktionäre unserer Partei – hatten schon warnend die Stimme erhoben.

Unsere Partei war mit so manchen ihrer Mitglieder an der Volksbewegung beteiligt. Als Organisation hat sie die Umgestaltung nicht einzuleiten vermocht, ja sie hat zunächst auch nicht den Charakter des Erneuerungsprozesses verstanden. Deshalb ist die Partei in der Zeit zwischen den Oktobertagen und unserem außerordentlichen Parteitag in eine Situation geraten, in der sie um ihre Existenz kämpfen muß. Hierfür trägt bereits die auf den Abgang Erich Honeckers folgende Parteiführung die Verantwortung.

Wir mußten immer weiter zurückweichen, weil die Führung um Egon Krenz kein Konzept besaß und nicht zu einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit bereit war. Das war in ihrer personellen Zusammensetzung auch nicht zu erwarten.

Ich bringe hier nur folgende Tatsachen in Erinnerung: Es begann mit der Verlegenheitsformel, Honecker sei aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten, und mit der Überrumpelung der Partei durch die 9. Tagung des Zentralkomitees. Der Partei wurde ein leicht verändertes Politbüro aufgenötigt, das mit der Lüge ins Leben trat, die SED-Führung habe die Wende eingeleitet. Die Stoph-Regierung und der Volkskammerpräsident durften weiterwursteln. Es wurde nicht begriffen, daß sich unser Land nicht mit dem Artikel 1 der Verfassung regieren ließ. Dunkle Punkte der Wahlen und Verantwortlichkeit für Gewalt gegen Demonstranten blieben unaufgeklärt. Statt selbst den Sumpf der Bereicherung und der Privilegien trockenzulegen, wurde eine die Partei diskreditierende Hinhaltetaktik betrieben. Selbst als alle Tore geöffnet wurden, sollten die Parteimitglieder noch immer von der Inbesitznahme ihrer eigenen Partei ausgesperrt bleiben. Nichts anderes bedeutete der Versuch, einen außerordentlichen Parteitag zu verhindern.

Und wer die Partei gründlich säubern und von unten her erneuern wollte, wurde von dirigierten Leuten in die Spalterecke gestellt.

Das war der Punkt, an dem die Parteibasis rebellierte und die Erneuerung der Partei von unten begann. Viele Parteiorganisationen wählten oder erneuerten ihre Leitungen, Gruppen von Genossen erarbeiteten Angebote für Programme und Statuten, Genossen gingen auf die Straßen und riefen: »Wir sind die Partei!« Auf diese Bewegung stützte sich der am 3. Dezember gebildete Arbeitsausschuß, der nun die Vorbereitung des außerordentlichen Parteitages in seine Hände nahm und mit den Untersuchungen von Gesetzesverletzungen und Vergehen, mit der Aufklärung von Fällen der Korruption und des Machtmißbrauchs durch Funktionäre der SED ernst machte.

Dabei, liebe Genossinnen und Genossen, wurde zusehends bewußt, daß die Kette des Machtmißbrauchs weit zurück reicht. Besonders schwer lastet auf uns, daß die Verbrechen der Stalinzeit noch nicht aufgeklärt, viele Opfer des Stalinismus noch nicht rehabilitiert sind. Inzwischen haben viele Betroffene ihr Schweigen gebrochen und sich vertrauensvoll an unsere Partei gewandt. Es läßt sich noch nicht genau übersehen, wie groß der Personenkreis ist, der direkt Repressalien ausgesetzt war, aber wir müssen mit einer hohen Zahl rechnen.

Betroffen waren deutsche Kommunisten, andere Antifaschisten und ihre Familien, die in den dreißiger Jahren und teilweise nach 1945 erneut in der Sowjetunion verurteilt bzw. verbannt wurden. Ein Teil von ihnen kehrte 1956 in die Heimat zurück.

Betroffen waren Sozialdemokraten, die von sowjetischen Sicherheitsorganen, später auch von den Organen unserer Staatssicherheit verhaftet wurden.

Auch KPD-Funktionäre aus den Westzonen gerieten bei Aufenthalten in der DDR in die Fänge sowjetischer Sicherheitsorgane und der mit diesen zusammenarbeitenden deutschen Dienststellen. Gemaßregelt, teils verhaftet und verurteilt wurden Mitglieder und Funktionäre der SED, aber auch anderer Parteien und Organisationen, besonders im Gefolge der in anderen Ländern geführten Prozesse zur Ausschaltung oppositioneller Kräfte.

Und es gibt jene Bürger und Genossen, die auch nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 aus politischen Gründen verhaftet und oft auch verurteilt wurden, wofür die volle Verantwortung bei Organen der SED und der Staatsmacht liegt.

Täglich werden neue tragische Einzelschicksale bekannt. Uns erwächst daraus eine hohe moralische und politische Verpflichtung. Die Mehrzahl dieser Menschen ist, obwohl sie schlimmen Drangsalen ausgesetzt war, ihren sozialistischen und humanistischen Idealen treu geblieben. Soweit es sich um Genossen unserer Partei handelt, haben sich die meisten nach Wiedererlangung der Freiheit ohne zu zögern weiter in unseren Reihen für eine sozialistische Zukunft eingesetzt, (Beifall) und das, liebe Genossinnen und Genossen, obwohl ihre Rehabilitierung oft nur halbherzig, verklausuliert oder gar nicht erfolgt ist. Vielen können wir noch postum die Ehre zurück geben.

Wenn wir den Stalinismus dauerhaft überwinden wollen, so dürfen wir nicht nur die Tatbestände benennen, wir haben vor allem nach den Ursachen zu fragen, Ursachen, die nicht nur zur Fortexistenz, sondern in jüngster Zeit auch zu besonders abstoßenden Auswüchsen stalinistischer Herrschaft geführt haben.

Diese Ursachen haben historische Wurzeln, die auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße in die Geschichte zurückreichen.

Da gibt es die spezifischen Strukturen, Methoden und Allüren der Honecker-Ära, da gibt es die mit unserer sozialistischen Entwicklung insgesamt verbundenen stalinistischen Deformationen und die Ausprägung eines entsprechenden Herrschaftssystems, da gibt es den Mißbrauch der kommunistischen Bewegung durch Stalin nach Lenins Tod und eine bis in die zwanziger Jahre zurückreichende stalinistische Linie, und manches geht wohl auch zurück auf preußisch-deutsches obrigkeitsstaatliches Denken und Handeln.

Wenn so, liebe Genossinnen und Genossen, die gesamte Geschichte unserer Republik und unserer Partei ins Spiel kommt, wir aber den Scheinwerfer auf eine bestimmte Achse unserer Entwicklung richten, besteht die Gefahr eines Bildes der Vergangenheit, das nur eine einzige Farbe hat. Ein solches Bild wäre unwahr, und es wäre ungerecht. Die Abrechnung mit dem Stalinismus ist Teil übergreifender Fragen, und diese lauten:

Was hat der frühe Sozialismus vermocht? Was hat ihn in eine Sackgasse geführt? Welchen Schaden hat der Sozialismus als Bewegung und als gesellschaftliche Praxis durch den Stalinismus erlitten? Das kann heute in aller Breite nicht das Thema sein. Aber die Bürger unseres Landes und die Mitglieder unserer Partei, die sich allzeit guten Glaubens mit Herz und Hand für den Sozialismus auf deutschem Boden eingesetzt haben, brauchen die Gewißheit, daß sie eine gute Spur in der Geschichte gezogen haben.

Sie haben dies getan, indem sie nach der Befreiung vom Naziregime Faschismus und Militarismus überwunden haben, jedenfalls als die Gesellschaft beherrschende Erscheinung, indem sie vor allem auf gesellschaftlichem Eigentum in Industrie und Landwirtschaft beruhende Produktion organisierten, die zeitweise auch ein ansehnliches Wirtschaftswachstum zu gewährleisten vermochte, indem sie unter widrigen Bedingungen einen Volkswohlstand erarbeiteten, der zwar dem Vergleich mit den entwickeltsten Industrieländern nicht standhält, im Weltmaßstab aber im Vorderfeld liegt, indem sie Bildungsschranken niederrissen, ein beträchtliches Ansteigen des Bildungsniveaus und die berufliche Qualifikation ermöglichten und ein geistiges Klima schufen, in dem die Idee der sozialen Gerechtigkeit zur Grundüberzeugung vieler Menschen in unserem Lande gehört; indem sie ein soziales Netz und eine Gesetzgebung schufen, die niemanden in die Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit, ins soziale Aus abgleiten läßt, indem sie mit Leistungen auf vielen Gebieten der DDR zu internationalem Ansehen verhalfen, indem sie dazu beitrugen, daß sich die DDR den Ruf eines Friedensstaates erwarb, in dem internationale Solidarität und Antifaschismus eine Heimstatt haben.

Dies und manches andere darf in der Kritik am Stalinismus nicht untergehen. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil eine sachliche und vernünftige Analyse der Vergangenheit notwendig ist, eine ausgewogene Analyse, um die Erneuerung einleiten zu können, um konkrete Ansatzpunkte für gesellschaftliche Umgestaltungsprozesse sichtbar werden zu lassen. Wenn es von all dem, von dem ich sprach, nichts gäbe, dann könnten wir auch keine Wohnung im europäischen Haus beanspruchen, dann wären wir auch für niemanden ein Partner im Dialog, im Ringen um europäische Sicherheit und Abrüstung, dann würde sich auch keine Hand zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit uns rühren.

Liebe Genossinnen und Genossen! Bekanntlich faßten Marx und Engels den Sozialismus als Kampf für die Befreiung des Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung auf, als Ersetzung der Klassenherrschaft und knechtenden Arbeitsteilung durch, wie es im »Manifest« hieß, eine Assoziation, worin »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Für dieses Ziel, das unter den historischen Bedingungen nur im harten Klassenkampf angestrebt werden konnte, stritt die deutsche Arbeiterbewegung, stritten ihre hervorragendsten Vertreter. Es entstanden in diesem Kampf unterschiedliche Auffassungen über Ziele, Wege und Methoden. Es gab scharfe Gegensätze, die zur Spaltung der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung in die sozialdemokratische und kommunistische Richtung führten. Wie diese ideologische und organisatorische Spaltung sowohl schon in der Entstehungsgeschichte als auch in der weiteren Entwicklung die notwendige Aktionseinheit behinderte, werden die Historiker sicher neu und gründlicher untersuchen.

Wenn wir in unserer Analyse im folgenden auch zu den Verhältnissen in der KPdSU und in der UdSSR in der Vergangenheit einzelne Gedanken äußern, dann stellt dies keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten einer anderen Partei dar, sondern dient dem Selbstverständnis der Entwicklung unserer Partei. Wir wissen uns in diesen Einschätzungen einig mit der sowjetischen Geschichtswissenschaft der Gegenwart.

Im Oktober 1917 trat in Rußland das Volk, geführt von der Bolschewistischen Partei, unter extrem schweren Bedingungen an, den Sozialismus zu verwirklichen. Der Sozialismus trat in einem Land in die Weltgeschichte ein, in dem die materiellen und allgemein kulturellen Voraussetzungen am schwächsten ausgebildet waren. Die Große Sozialistische Oktoberrevolution wurde durchgeführt und siegte im Zeichen des Völkerfriedens, der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und Menschenwürde. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte sollten Freiheit und Demokratie auf eine reale ökonomische und politische Basis gestellt werden. In den zwanziger und dreißiger Jahren vollzogen sich in der ökonomisch rückständigen, durch Weltkrieg und Bürgerkrieg verwüsteten Sowjetunion grundlegende Veränderungen, wie die Industrialisierung, die Kulturrevolution, die Konsolidierung ihrer internationalen Position. Das waren Tatsachen von historischer Bedeutung, die vor der Geschichte Bestand haben.

Doch gleichzeitig entstanden in der Partei und im Lande Erscheinungen, die immer mehr dem sozialistischen Ideal widersprachen, die den Sozialismus diskreditierten. Es entwickelte sich ein bürokratisch-zentralistisches Regime, vor dem Lenin oft gewarnt hat, dessen Hauptkennzeichen Dogmatismus, Subjektivismus und schließlich diktatorische Herrschaft waren. Immer mehr wurden die humanistischen und demokratischen Werte des Sozialismus ins Gegenteil verkehrt.

Wir bezeichnen dieses Regime als stalinistisch. Doch es wäre falsch, seine Entstehung nur auf die Person Stalins zurückzuführen, obwohl er natürlich einen bedeutenden Anteil daran hatte. Verschiedene Faktoren, darunter die Zwänge des Kriegskommunismus, die Rückständigkeit Rußlands, das Fehlen ausgeprägter parlamentarisch-demokratischer Traditionen in Rußland, begünstigten das Entstehen einer bürokratischen Schicht, die mit Hilfe des Apparats des Staates, der Armee, der Sicherheitsorgane, der Wirtschaft und der Partei wirksam wurde. Diese Schicht entfernte sich immer mehr vom Volk und seinen Bedürfnissen und begann, eine unumschränkte Macht auszuüben. Da sie dem Apparat ihre soziale Existenz verdankte, war sie an der Erhaltung und Unantastbarkeit dieses Apparates interessiert. Durch diesen Apparat wurde die Sowjetdemokratie der Revolutionszeit immer mehr in eine Diktatur der Bürokratie verwandelt, wurden die demokratischen Bürgerrechte eingeschränkt und die Politik mit Gewalt und Terror, wie zum Beispiel in der Kollektivierung, unter großen Opfern durchgesetzt.

Alternative Konzeptionen sowie Kritik am Sozialismus oder an führenden Personen galten als »Konterrevolution« oder als feindliche »Agententätigkeit«. Ihre Verfechter wurden verfolgt und gemaßregelt. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung waren die stalinschen Repressionen der dreißiger und vierziger Jahre, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Es änderten sich auch Wesen und Rolle der Partei. Marx und Engels sahen in der Partei der Kommunisten einen Teil der Arbeiterklasse, der keine von den Interessen des Proletariats getrennte Interessen hat, der seine Aufgabe besonders darin sehen muß, die Bedingungen und die Entwicklung der Bewegung zu erkennen und dabei am entschiedensten die Interessen der Klasse zu vertreten. Im Gegensatz dazu wurde unter der Führung Stalins das Machtmonopol der Partei über den Staat, die Wirtschaft und andere gesellschaftliche Bereiche errichtet und ständig ausgebaut, wobei es eigentlich ja nicht das Machtmonopol der Gesamtpartei, sondern eben seine bürokratisch-diktatorische Führungsclique war. Lenin hatte immer wieder die Methode der Überzeugung als die Hauptmethode der politischen Arbeit, auch der siegreichen Staatspartei herausgestellt. Nun traten an diese Stelle Administration, Druck, psychischer und physischer Terror bis hin zu Massenrepressalien. Der Mensch wurde zum Schräubchen, zum Objekt der gesellschaftlichen Entwicklung und namentlich des politischen Systems.

Gewerkschaften und andere Organisationen der Werktätigen erhielten den Rang von »Transmissionsriemen«, mit deren Hilfe die Führung ihre Diktatur ausübte und dabei noch pseudodemokratisch verbrämte.

Ein tragender Bestandteil dieses Systems war der Personenkult um Stalin. Er war aber nicht Ursache und hauptsächliches Merkmal. Der Kult um den toten Lenin, von Stalin maßgeblich mit betrieben, diente dazu, die Lehren Lenins und das Leninsche Sozialismuskonzept zu verdrängen. Die Stalinisten gaben und geben sich immer und überall als Marxisten-Leninisten aus. Die von ihnen als marxistisch-leninistisch verbreitete Ideologie hatte jedoch die Hauptfunktion, den Widerspruch zwischen den wahren Werten des Sozialismus und der stalinistischen Wirklichkeit zu verschleiern. Dabei wurden oft Zitate der Klassiker mißbraucht, auch beliebig ausgetauscht, um die gerade gängige Politik der Führung zu rechtfertigen. Einschätzungen und Äußerungen Lenins zu bestimmten konkret-historischen Situationen wurden aus dem Zusammenhang gerissen und dogmatisch auf andere Situationen übertragen. Mithin gehört auch die Verlogenheit zum Wesen des Stalinismus.

Stalinismus bedeutete Demoralisierung und Entartung des geistigen Lebens sowie Zerstörung menschlicher Werte. Unter stalinistischem Vorzeichen wurden grundlegende Gedanken und der ethische Gehalt der marxistischen Philosophie und Wissenschaft entstellt. So blieb unbegriffen, daß der Marxismus vor allem theoretischer Humanismus ist. Die Einsicht, daß der Marxismus und die revolutionäre Arbeiterbewegung vor allem Repräsentanten und Vorkämpfer allgemeinmenschlicher Werte und Ideale sind, ist entscheidend für ein richtiges Herangehen an alle Fragen der sozialistischen Politik. Aus dieser Position resultiert die Erkenntnis der Notwendigkeit und Möglichkeit, und diese Erkenntnis ist sehr aktuell, sozialistische Politik als Lebensform des denkbar breitesten Bündnisses aller Kräfte des Volkes zu entwickeln, niemanden auszugrenzen und immer den demokratischen Konsens und Kompromiß zur Verwirklichung der Interessen und Ansprüche der Menschen anzustreben. Dieses Bündnis, das die sachliche Auseinandersetzung stets einschließt, wurde oft nicht offen und ehrlich gesucht und durch Arroganz und Monopolisierung zerstört.

Die Umgestaltung unserer Gesellschaft verlangt auch, daß wir uns radikal von der stalinistischen Interpretation der Machtfrage trennen. Das Verhältnis zur politischen Macht war wesentlich reduziert auf einen Aberglauben an die Möglichkeiten der staatlichen Gewaltinstrumente, die jeglicher demokratischer Kontrolle entzogen waren. Vorherrschend war die Illusion, mit Hilfe zentralisierter Herrschaftsapparate die Gesellschaft nicht nur kontrollieren, sondern ihre Entwicklung auch jederzeit korrigieren zu können. Dabei wurde die politische Hauptaufgabe verdrängt: der Kampf für die Schaffung des demokratischen Konsenses mit allen Kräften des Volkes in den grundlegenden Fragen der Gesellschaftsentwicklung und die gesellschaftliche Verständigung über das gemeinsame Vorgehen auf den einzelnen Feldern der Politik. Politik wurde primär als Instrument administrativen Machtgebrauchs verstanden.

Der unter konkreten Bedingungen in den ersten eineinhalb Jahrzehnten der Sowjetmacht sich durchsetzende Stalinismus in der KPdSU und in der sowjetischen Gesellschaft blieb für die kommunistische Bewegung in Deutschland nicht folgenlos. Bekanntlich förderte auch die von Stalin zunehmend in bestimmten Fragen beherrschte Kommunistische Internationale das Entstehen und Fortwirken sektiererischer Positionen in der KPD. Die berüchtigte Sozialfaschismus-These ist das bekannteste Beispiel. Der Einfluß des Stalinismus hinderte zeitweise viele führende deutsche Kommunisten bei allen bedeutenden Verdiensten daran, den Wert bürgerlich-demokratischer Errungenschaften in vollem Maße zu erkennen und das Zusammengehen mit Sozialdemokraten sowie das breitest mögliche Bündnis für die Überwindung von Faschismus und Krieg konsequent mitzugestalten.

Viele im antifaschistischen Kampf entwickelten Gemeinsamkeiten sind durch den Einfluß stalinistischer Politik erheblich beeinträchtigt worden. Das alles ändert freilich nichts daran, daß deutsche Kommunisten gemeinsam mit Sozialdemokraten nach der Befreiung zu Recht mit dem Anspruch auftreten durften, die weitere Entwicklung der Nation entscheidend mitzubestimmen.

Genossinnen und Genossen! Mit dem Blick auf die Zukunft sind wir verpflichtet, eine gründliche Analyse zu erarbeiten, welche Ursachen zu stalinistischem Denken und Handeln nach der Befreiung vom Faschismus in unserem Land geführt haben und wie diese eine Deformation gesellschaftlicher Verhältnisse herbeiführten.

Die Menschen, die nach zwölf Jahren Nazi-Diktatur und sechs Jahren Krieg angetreten waren, um Faschismus und Militarismus mit ihren Wurzeln zu beseitigen und eine antifaschistisch-demokratische und schließlich sozialistische Ordnung zu errichten, haben sich die Bedingungen ihres Wirkens wahrlich nicht aussuchen können. Sie konnten entweder zuschauen, wie unser Volk ins Chaos versinkt, oder etwas Neues wagen. Die aus der Illegalität hervortretenden Mitglieder der Arbeiterparteien legten als erste Hand an. Sie standen ein für eine neue, demokratische Republik, in der das Volk die Macht ausübt, in der die wichtigsten Produktionsmittel gesellschaftliches Eigentum sind, in der eine geplante Wirtschaft wachsenden Wohlstand bringt, in der Privilegien beseitigt sind und soziale Gerechtigkeit herrscht. Der erdrückenden Zeitumstände waren sich die damaligen Generationen von Arbeiterfunktionären sehr wohl bewußt, der lang wirkenden Hindernisse kaum. Wenn trotz schwieriger Ausgangsbedingungen dennoch Bedeutendes zur sozialökonomischen Umgestaltung der Gesellschaft geleistet wurde, volkseigene und genossenschaftliche Betriebe in Industrie und Landwirtschaft entstanden, wenn Menschen aus dem werktätigen Volk Verantwortung in Staat, Wirtschaft und Kultur übernahmen, wenn sich eine Gesellschaft mit unverwechselbaren Zügen herausbildete – so gehört das zu dem positiven Ertrag unseres Volkes und auch zu den Leistungen unserer Partei.

Und, Genossinnen und Genossen, wir würdigen all jene Genossen, die sich selbstlos in jahrzehntelanger Arbeit für den Sozialismus auf deutschem Boden eingesetzt und Großes geleistet haben. Eine Erneuerung, die das vergäße, die träte mit einer neuen Unmoral an. (Beifall) Wenn wir über unsere Entwicklung sprechen, ist auch zu bedenken, daß sie sich stets in enger Abhängigkeit von der Politik der jeweiligen sowjetischen Führung vollzog.

Der mit der Befreiung vom Faschismus eingeleitete revolutionäre Umwälzungsprozeß läßt sich in seinem Wesen und in vielen seiner Erscheinungsformen jedoch nicht einfach als bloße Übertragung des in der UdSSR seinerzeit existierenden, durch Stalin geprägten gesellschaftlichen Systems auf Ostdeutschland erklären. Es gibt gravierende Unterschiede: so zum Beispiel bei der Herausbildung des politischen Systems, in den Wegen und Formen der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln, in der Entfaltung der Produktivkräfte.

Das erklärt sich aus gewichtigen Ursachen. Die erste ist die durch das Potsdamer Abkommen bestimmte Deutschland- und Friedenspolitik der UdSSR in der Nachkriegszeit, die auf die Schaffung eines einheitlichen neutralen deutschen Staates gerichtet war. Dieses Konzept schränkte die Übertragung bestimmter Methoden und die Forcierung von Umgestaltungen durch Druck und Zwang ein. Zweitens wirkte die Situation auf deutschem Boden, das ständige Konfrontiertsein mit einem den kapitalistischen Entwicklungsweg gehenden zweiten deutschen Staat und die lange Zeit offene Grenze als Korrektiv.

Drittens besaß die deutsche Arbeiterbewegung eine lange sozialistische und demokratische Tradition, parlamentarische und außerparlamentarische Erfahrungen, die nicht ohne weiteres auszuschalten waren. Die Sozialistische Einheitspartei und ein eigener Weg zum Sozialismus, wie er in den 1946 beschlossenen Grundsätzen und Zielen der SED vorgesehen waren, darin bestand die Hoffnung eines Neubeginns für Sozialdemokraten wie für Kommunisten. Diese Chance war auch darin begründet, daß sich mit der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung Formen eines Demokratismus entwickelten, die vor allem von Mitgliedern der Arbeiterorganisationen ausgingen. Die damaligen Antifa-Ausschüsse, Betriebsräte, die neuen demokratischen Selbstverwaltungen, die Jugendausschüsse, die Frauenausschüsse, die Blockausschüsse, die Bodenreformkommissionen, die Umsiedlerausschüsse und die Volkskontrollausschüsse – das waren Organe, mit denen mehr und mehr Werktätige in eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft einbezogen wurden. Die gegenwärtige Volksbewegung für die Erneuerung des Sozialismus steht, ob bewußt oder unterschwellig, in vieler Hinsicht in der Tradition jenes Demokratismus, wie er in Zeiten revolutionären Aufbruchs gerade in der Arbeiterbewegung hervorgetreten ist.

Der Bruch in dieser Entwicklung wurde 1948 offensichtlich. Symptome dafür waren der von Stalin ausgelöste sowjetisch-jugoslawische Konflikt, die politischen Schauprozesse in volksdemokratischen Ländern. Und aus diesen oder anderen Ereignissen abgeleitete, viele Genossen diskriminierende Beschlüsse der SED sowie Maßnahmen der politischen Strafjustiz. Betroffen waren zum Beispiel die Genossen Franz Dahlem, Lex Ende, Max Fechner, Willi Kreykemeyer, Paul Merker. Wenn es bei uns nicht zu vergleichbaren öffentlichen Schauprozessen mit Todesurteilen gekommen ist, so ist das nicht zuletzt ein Verdienst damals führender Genossen unserer Partei. Mit dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 wurden Schritte zur Aufdeckung und Überwindung bestimmter Folgen des Stalinismus eingeleitet. Tausende wurden aus der Haft entlassen, auch Genossen kamen frei. Ein Teil wurde rehabilitiert. Aber vieles ist noch offen und bedarf einer Aufarbeitung. Doch fast zur selben Zeit kam es im Zusammenhang mit den Ereignissen von Ungarn 1956 zu neuen Repressalien, und zu den Opfern dieser Zeit gehörte auch Walter Janka.

Korrekturversuche der Jahre 1953 und 1956 zur Erneuerung des Sozialismus – die noch genauerer Überprüfung bedürfen, das gilt auch für die Ereignisse vom 17. Juni 1953 – sind rasch zum Erliegen gekommen oder zum Erliegen gebracht worden. Mit dem Argument, keine Fehlerdiskussion zuzulassen bzw. Fehler im Vorwärtsschreiten zu überwinden, wurde jede Erforschung der Ursachen unterbunden. Das begünstigte den Fortbestand einer Führungsspitze, die zu keinen grundlegenden Erneuerungen bereit war. Das läßt uns auch die Frage nach der Bewertung der politischen Auseinandersetzungen mit den sogenannten Fraktionen Herrnstadt-Zaisser und Schirdewan-Wollweber und der Berechtigung der damals ausgesprochenen Parteistrafen auf neue Weise stellen. Hier muß man alles aufklären, was noch aufklärbar ist.

In den fünfziger Jahren schritt ein Prozeß heran, der zur Herausbildung eines Entscheidungsmonopols der SED-Spitze in der Gesellschaft führte, obwohl die damals geltende erste Verfassung der DDR dafür keine Handhabe bot. Das gipfelte in einem 1960 gefaßten Beschluß, der Entscheidungen der Parteiführung für die staatliche Arbeit als verbindlich erklärte. Es war diese Überzentralisation im politischen System, die zur Überzentralisation im ökonomischen Leben der Gesellschaft führte, und nicht umgekehrt.

Genossinnen und Genossen! Schwerer und unmittelbarer lasten auf unserer Gegenwart die Fehlentwicklungen und Versäumnisse der Folgezeit.

Anfang der sechziger Jahre hatte die Führung der SED davon gesprochen, daß sich nun der Sozialismus in gesicherten Grenzen auf seinen eigenen Grundlagen entwickelt. Daraus erwuchsen hoffnungsvolle Ansätze für eine Erneuerung. Allerdings sind viele Möglichkeiten vergeben worden.

Die Inkonsequenz des XX. Parteitages der KPdSU und seiner Auswertung in der DDR gewann Langzeitwirkung. Es blieb bei der Interpretation, daß der Personenkult um Stalin und die damit verbundenen Verbrechen dem Sozialismus wesensfremd und nicht im System seiner Strukturen verwurzelt seien. Das mußte sich um so verhängnisvoller auswirken, je mehr sich der Sozialismus durch die wissenschaftlich-technische Revolution, die globalen Probleme, die neuen Bürgerrechts- und Menschenrechtsbewegungen und schließlich durch den KSZE-Prozeß herausgefordert sah, sich wirklich zu erneuern.

Mitte der sechziger Jahre gab es einen produktiven Ansatz für ein neues ökonomisches System, das von der Kommandowirtschaft wegführen und zu einem vor allem mit ökonomischen Instrumentarien regulierten, effektiven Wirtschaften hinführen sollte. Aber ein neues System der Ökonomie konnte nicht reifen, wenn nicht auch eine Öffnung im politischen und geistig-kulturellen Leben der Gesellschaft erfolgte. Dem aber stand vor allem das in stalinistischer Tradition verharrende Selbstverständnis der Partei entgegen. Wir müssen uns mit aller Konsequenz und selbstkritisch mit einer Parteiauffassung auseinandersetzen, die den Anspruch auf Erkenntnismonopol rechtfertigte und selbst Privilegien für selbstverständlich hinnahm.

Mit dem traditionellen Selbstverständnis unserer Partei sind eine Fülle ungelöster Probleme verbunden, die der weiteren wissenschaftlichen Untersuchung bedürfen.

Nicht verstanden wurde der Impuls des Prager Frühlings, der in der Gemeinsamkeit sozialistischer Länder hätte produktiv gemacht werden können. Kritiker wie Robert Havemann und andere sollten mundtot gemacht werden.

An der Schwelle der siebziger Jahre weckte der später maßlos überbewertete und zum Kult um Erich Honecker benutzte VIII. Parteitag mit seinem in manchem veränderten politischen Stil, mit der engeren Zusammenführung von Wirtschaft und Sozialpolitik Hoffnungen. Diese wurden vom damaligen Generalsekretär in der Innenpolitik nur punktuell und kurzzeitig, in der Außen- und Friedenspolitik allerdings für längere Zeit eingelöst.

Sobald sich jedoch Erich Honecker fest im Sattel und zwischen den Großen der Weltpolitik sitzen fühlte, wuchs sein Geltungsdrang im umgekehrten Verhältnis zu seinem tatsächlichen politischen Format.

Der Generalsekretär und sein Politbüro, das sich dem Zentralkomitee nicht verantwortlich fühlte und keine Kollektivität übte, begriffen nicht, worauf sich nun die DDR in Fragen der Menschenrechte, der Reisemöglichkeiten, der Veränderung des Grenzregimes usw. einzustellen hatte. Der Dialog nach außen und Verweigerung nach innen, Repressalien gegen Andersdenkende und ähnliches mußten die Kluft zwischen Partei und Volk vertiefen und zu äußersten Widersprüchen führen. Die Politik unserer Partei in den siebziger Jahren gilt es in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit aufzuarbeiten. Für die Erneuerung unserer Gesellschaft ist es von großer Bedeutung, die Leistungen und Fehler unserer Partei in dieser Zeit kritisch und umfassend zu analysieren. Auf dem Gebiet der Wirtschaft zum Beispiel bewies die Entwicklung in dieser Zeit, was eine sozialistische Konzentration vermag, und zugleich, was geschieht, wenn durch die Blockierung von Demokratisierungsprozessen und Ignorierung der Wissenschaft wirtschaftliche Entwicklung falsch programmiert wird.

Bezeichnend für das Defizit an theoretischer Fundierung der Politik in dieser Zeit war auch ein völlig vereinfachtes Kapitalismusbild, das alten ideologischen Stereotypen entsprach, rein agitatorische Bedeutung hatte, aber die Potenzen des modernen Kapitalismus nicht wahrnahm.

Das alles mußte in seiner Gesamtheit letztlich zur Krise, zum politischen Zusammenbruch führen.

1985, als die KPdSU Kurs auf Perestroika und Glasnost nahm, hätte sich wohl noch ein Ausweg eröffnet, wenn unser Land kühn und besonnen auf den Weg der Entstalinisierung geführt worden wäre.

Bei der Überschaubarkeit unseres Landes, seiner ökonomischen Situation, der noch bemerkenswerten politischen Stabilität bestanden für einen klugen Reformkurs im Grunde genommen bessere Voraussetzungen als in der UdSSR. Aber dies vermochte die machtbesessene alte Führung nicht zu begreifen, und sie steckte auch viel zu tief im Sumpf, um eine Erneuerung ernstlich zu wollen. (Beifall)

Alle Warnungen und Forderungen wurden mißachtet und unterdrückt, kritische Parteimitglieder als Meckerer und Nörgeler disqualifiziert und massenhaft aus der Partei ausgeschlossen, und eine Handhabe dafür bot der Beschluß zur ideologischen Arbeit, den das Politbüro im Dezember 1988 faßte.

Erich Honecker und seine Umgebung entfernten sich immer mehr von der Parteibasis und vom Volk. Sie gingen auf Gegenkurs zu Perestroika und Glasnost, besonders kraß mit dem »Sputnik«-Verbot, mit dem schlimmen Artikel im »Neuen Deutschland« über die Kommunistische Internationale, durch den sowjetische Historiker diskriminiert und die Geschichtswissenschaft der DDR diskreditiert wurden. Die »Hofberichterstattung« in den Medien und die allen Lebenserfahrungen widersprechenden – wie wir heute wissen: erlogenen – Erfolgsdaten wurden immer unerträglicher und zum Zündstoff des öffentlichen Protestes. Mit der Öffnung der ungarischen Grenze brachen schließlich alle Dämme.

In Ablehnung von Perestroika und Glasnost wurde die Losung »Sozialismus in den Farben der DDR« begründet. Heute sollte man diese Zeit als »Stalinismus in den Farben der DDR« bezeichnen.

Liebe Genossinnen und Genossen! Aus dem hier Dargelegten, das bei allem – wie ich eingangs sagte – einen vorläufigen Charakter hat, unterbreitet der Ausschuß dem Parteitag zur Wiedergutmachung für die Opfer des Stalinismus folgenden Vorschlag:

  1. Die Rehabilitierung aller, die Opfer stalinistischer Verfolgung geworden sind, sei es in der UdSSR oder in unserem Lande. Dazu sind Kontakte zu den entsprechenden sowjetischen Stellen herzustellen.
     
  2. An den Parteivorstand ergeht der Auftrag, dafür zu sorgen, daß alles aufgeklärt wird, was sich über Einzelschicksale, aber auch über Verantwortlichkeiten und Schuld in Erfahrung bringen läßt.
     
  3. Wir bieten unsere Mitarbeit in einem unabhängigen Untersuchungsausschuß an, zusammengesetzt aus betroffenen Personen, aus Juristen, aus Historikern und anderen Persönlichkeiten. Unsere Partei stellt diesem Ausschuß die ermittelten Resultate zur Verfügung.
     
  4. Wir setzen uns dafür ein, daß den Opfern stalinistischer Verbrechen ein bleibendes Gedenken in unserer Gesellschaft bewahrt wird.

Dem sollten sowohl das bereits von anderen vorgeschlagene würdige Mahnmal als auch Zeugnisse der Erinnerung und Bewahrung der bestehenden Museen und Gedenkstätten und in unserer schöngeistigen und wissenschaftlichen Literatur dienen.

Die in die Zukunft weisenden Konsequenzen, daß heißt die Beseitigung von Strukturen, die solche Deformationen ermöglichten, müssen ihren Niederschlag finden im neuen Programm, im neuen Statut, in einem neuen, kritischen Umgang mit unserer eigenen Geschichte, der frei ist von Apologetik, Schönfärberei, einem Umgang, der nichts aus dieser Geschichte ausspart. Und all dies muß sichern die Trennung von Partei und Staat, die Wählbarkeit von unten nach oben, die Anerkennung unterschiedlicher Meinungen, auch innerhalb der Partei, und ihre Reflexion in den Medien und viele andere demokratische Sicherungen mehr.

Liebe Genossinnen und Genossen! Wir betrachten die Behandlung dieses Tagesordnungspunktes als weiteren Schritt der Abkehr vom Stalinismus und als Unterstützung für den weiteren Prozeß seiner konsequenten Überwindung.

Ich danke euch für eure Geduld.

 

 

 

© Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS
Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin
Karl Dietz Verlag Berlin 1999