Berlin hat etwas Besseres verdient, als diesen Senat

5. Parteitag, 1. Tagung
Parteitag

Grußwort des Bundesgeschäftsführers

Matthias Höhn


[Manuskript – es gilt das gesprochene Wort.]

Anrede,

vielen Dank für eure Einladung und die Möglichkeit eines kurzen Grußwortes.

DIE LINKE ist nach dem zu Ende gegangenen Wahlzyklus 2013/14 in einer spannenden Situation.

Der Wahlabend in Thüringen hatte für alle Beteiligten durchaus etwas Historisches. Und auch wenn noch nichts feststand oder bis heute steht: Für DIE LINKE wurde an diesem Tag ein Kletterhaken in die Wand gerammt, an dem sich die Partei insgesamt durchaus ein weiteres Stück empor ziehen kann, der aber auch eine Höhe hat, die manchen schwindelig macht.

Und dabei geht es weniger um die (noch nie) erreichten 28,2 Prozent. Natürlich ist das eigentlich Faszinierende an diesem Ergebnis die Aussicht, die es bietet. Abgesehen von einer einzelnen kleinen Strömung innerhalb der Partei scheint es so, als würden sich alle freuen auf: Bodo! Das ist gut.

Was die Partei aber in ihrem Wohlgefühl diesbezüglich nicht vergessen darf, sind ihre eigenen Hausaufgaben. Die Wahlen der vergangenen zwölf Monate auf allen Ebenen (Kommune, Länder, Bund, Europa) bieten dafür den Ausgangspunkt. Die Liste ist lang: strukturell-finanzielle Fragen, kulturelle, inhaltliche und strategische Fragen.

Die Linke ist immer dann gut, wenn sie inspiriert. Beschwörungsformeln sollten wir anderen überlassen. Die Partei lebt mitunter jedoch davon. Allerdings kann man mit so etwas auch langsam untergehen, denn solche Beschwörungen verschleiern sehr oft mangelnde Substanz oder Relevanz.

Losungen werden selten Realität, Lösungen aber können ein Anfang sein, diese zu verändern. Wer nach Lösungen suchen will, muss sich trauen Fragen zu stellen – auch die großen. Gewissheit setzt Staub an, Neugier macht interessant. Wenn beinah alle politischen Parteien heute darüber klagen, dass sie schwere Probleme haben, Menschen für eine Mitarbeit zu gewinnen, dann liegt dies auch an ihrer Erscheinung, an ihrem Gestus.

Anrede

Ich möchte, dass wir uns wieder mehr trauen Fragen zu stellen – und eigene Positionen zu hinterfragen. Das ist weder ein Zeichen von Schwäche noch von Opportunismus, im Gegenteil, es ist ein Zeichen von Selbstvertrauen und eine Frage des Selbstverständnisses. DIE LINKE ist nicht der Nabel der Welt, der eingemauerte Fixpunkt, um den sich alles dreht. Die Zustände ändern sich, Gesellschaft verändert sich – wir sollten uns darauf einstellen und nicht warten, dass sich die Bedingungen wieder »günstiger« für uns fügen und zu unseren Konzepten passen. Andersherum wird ein Schuh draus.

Dabei geht es nicht um Beliebigkeit! Maßstab konkreter Politik bleibt unser Wertesystem als demokratisch-sozialistische Partei. Eine Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit ist unabdingbar, gemeinsame Sache mit kruden Verschwörungstheoretikern gibt es nicht – ob montags oder sonst irgendwann. Ein unverstellter Blick auf die Situation im Nahen Osten gehört zu uns, das Bedienen antisemitischer Klischees nicht. Ein waches Bewusstsein für unsere eigene Geschichte ist Ausgangspunkt zukunftsfähiger linker Politik, vereinfachtes Schwarz-Weiß-Denken oder romantische Verklärung verbauen diese Zukunft.

 

Anrede

Lasst mich die Gelegenheit nutzen, im November, in Berlin, etwas mehr zum Thema Geschichte zu sagen.

In den letzten Tagen konnte einen unvorsichtigen Beobachter das Gefühl beschleichen, es würde uns in diesem Herbst leicht gemacht, mit diesem Thema umzugehen. Der Amtsmissbrauch eines Bundespräsidenten für parteipolitische Propaganda, wüste Beschimpfungen in einer Bundestagsfeierstunde schließen die Reihen und verschaffen der LINKEN Solidarität von manch unverhoffter Seite. Dennoch: Die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, dem Scheitern des real existierenden Sozialismus darf uns nicht leicht fallen – dafür ist sie viel zu differenziert, dafür waren die Ereignisse viel zu einschneidend – gerade für unsere Partei.

Anrede

Unsere Verantwortung vor der Geschichte bleibt, übrigens egal, ob wir uns gerade wie in Thüringen anschicken zu regieren oder nicht.

Wir wissen: der real existierende Sozialismus scheiterte an Unfreiheit, ideologischem Dogmatismus und wirtschaftspolitischem Versagen. Und wir wissen: Es gibt kein Zurück hinter unseren Bruch mit dem Stalinismus als System – oder es gibt keine gesellschaftlich relevante Linke mehr.

Die Ergebnisse des real existierenden Sozialismus sind bis heute Hypothek der politischen Linken. Sein Ende war aber auch Voraussetzung für die erfolgreiche Etablierung einer demokratisch-sozialistischen Partei in der gesamten Bundesrepublik – so paradox das für manche klingen mag, ist es doch konsequent.

Dass wir diese Chance nach 1989 allerdings überhaupt genutzt haben – dafür trägt nicht zuerst meine politische Generation die Verantwortung, sondern jene Mitglieder unserer Partei, die deutlich älter sind als ich. Dafür verdienen sie unseren Respekt und unseren Dank.

Anrede

25 Jahre friedliche Revolution sollten nicht nur Anlass sein zu erinnern, sondern auch auf gesellschaftliche Zustände heute zu schauen. Was ist aus der großen Sehnsucht nach freien Wahlen und echter politischer Mitbestimmung geworden angesichts dramatisch sinkender Wahlbeteiligung? Was ist aus der Hoffnung auf ein neues, friedliches Haus Europa geworden angesichts kriegerischer Auseinandersetzungen heute mitten in Europa?

Ich bin mir sicher, dass die Erinnerung an den Herbst 89 ein Grund zum Feiern ist – und gleichzeitig wünschte ich mir, dass sich alle sehr viel intensiver auch der Frage zuwenden würden, wie es denn heute hier und in der Welt um Freiheit und Gerechtigkeit bestellt ist. Die einen reden nur gern über die kritikwürdigen Zustände heute, ohne ihre eigene Geschichte zu reflektieren, die anderen erwecken den Eindruck, wir hätten vor 25 Jahren den ewigen Glückszustand erreicht, ohne ihre eigene aktuelle Politik zu hinterfragen – beides ist absolut unzulänglich.

 

Anrede

Am Morgen des Nikolaustages können wir – wenn alles gut geht – den ersten linken Ministerpräsidenten im Stiefelchen finden. Feine Sache. Aber ich sage uns als Partei auch: der schwierige Teil kommt erst noch, nämlich die fünfjährige Amtszeit. Nichts wird Bodo und uns geschenkt werden. Umso wichtiger ist, dass wir uns füreinander – von Bundesland zu Bundesland, und vom Bund zu den Ländern und umgekehrt – ernsthaft interessieren.

Ich warne davor, die Thüringer Entscheidungen zu überfrachten – in Erfurt wird nicht entschieden, wer die nächste Bundesregierung 2017 stellt. Für einen Politikwechsel im Bund bedarf es einer ausreichenden inhaltlichen Basis und einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung – von beidem sind wir weit entfernt.

Aber klar ist auch, wer einen Politikwechsel erreichen will, muss in den Ländern die Voraussetzungen dafür schaffen. In den kommenden zwei Jahren stehen eine Reihe von Landtagswahlen an: Hamburg, Bremen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Da kann Musik drin sein, wenn wir diese Wahlen als unsere gemeinsame Aufgabe als Partei verstehen.

Berlin hat etwas Besseres verdient als diesen Senat. Aber nichts ist selbstverständlich, schon gar nicht politische Wechsel nach links. Im Gegenteil: im Moment driftet unsere Gesellschaft nach rechts. Die Wahlerfolge der AfD sind der am meisten diskutierte Beleg dafür – viel mehr Sorge macht mir jedoch das, was sich insgesamt in der Mitte der Gesellschaft breit macht. Anwachsenden Hass und Gewalt gegen alles, was fremd erscheint, werden wir niemals akzeptieren.

Und eine offizielle Politik, die diese Stimmung noch bedient und Flüchtlinge wie Menschen zweiter und dritter Klasse behandelt, gerade auch hier in Berlin, ist nicht nur menschenunwürdig, sondern auch brandgefährlich.

Übrigens: auch die offene Hetze gegen Gewerkschaftsfunktionäre ist ein gefährliches Zeichen. Man muss die Mehrheitsmeinung der GDL-Mitglieder nicht teilen und man kann und muss auch darüber diskutieren, wie wir Tariffindung organisieren wollen in Unternehmen mit mehreren Gewerkschaften. Aber einen Gewerkschaftsvorsitzenden zum öffentlichen Freiwild zu erklären – das ist inakzeptabel.

Anrede

Ich wünsche euch einen erfolgreichen Parteitag, ich wünsche euch die nötige Ausdauer, die ihr auf dem langen Weg bis zur Abgeordnetenhauswahl noch braucht, ich will euch die Unterstützung der Bundespartei dabei zusagen. Und Klaus – und allen die heute kandidieren – wünsche ich alles Gute.