Aber was hat dies mit Karl Marx zu tun

6. Parteitag, 4. Tagung

Rede von Michael Brie


[Manuskript. – Es gilt das gesprochene Wort.]

Liebe Gemeingütlerinnen und Gemeingütler
oder, wenn Ihr so wollt, liebe Commonerinnen und Commoner,

Ich möchte Euch dazu gratulieren, dass Ihr auf moderne Weise die Eigentumsfrage ins Zentrum stellt: Wem gehört die Stadt? Zu lange hat die europäische Linke die Eigentumsfrage nur noch abstrakt verhandelt und der Privatisierung des Öffentlichen weder wirksamen Widerstand, noch konkrete Alternativen und transformatorische Realpolitik entgegengestellt. Dass damit Schluss sein soll, ist großartig. Die Berliner Linke hat dabei auch Schulden zu begleichen, wie wir alle wissen. Gratulieren möchte ich auch, dass Ihr die Frage „Wem gehört die Stadt“ mit einer Strategie der Erneuerung des Öffentlichen, der Gemeingüter verbindet.

Aber was hat dies mit Karl Marx zu tun, der fünf Jahre lang hier in Berlin studiert hat? Wer wie Hubertus Knabe in Stalins Sowjetrussland die große Verwirklichung des Marxschen Vermächtnisses sieht, kann sich nur schaudernd von Marx abwenden: Der Gulag als Einlösung des Marxschen Imperativs, alle Verhältnisse umzuwälzen, in denen Menschen geknechtet und entwürdigt, verächtlich gemacht werden! Der tödliche Führerkult als Umsetzung der Radikaldemokratie der Pariser Kommune!

Marx wollte die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen, in dem er sie begreift und danach fragt, welche Möglichkeiten solidarischer Befreiung in ihnen liegen – als objektive Chancen, als subjektive Sehnsüchte, als soziale und geistige Bewegungen. Und er hat mit dem Bund der Kommunisten und der ersten Internationale an politischen Organisationen gearbeitet, die eingreifen konnten.

Lasst uns nicht Marx als toten Buchstaben nehmen, sondern konzentrieren wir uns auf den lebendigen Fragenden, den Suchenden, den widerspruchsvoll Eingreifenden! Er wollte das Ganze einer radikalen Emanzipation und er wollte sie für und durch die, die den Reichtum der Gesellschaft schaffen und viel zu sehr von diesem ausgeschlossen waren. Und dies wollen wir doch auch. Sein Weg waren das Gemeineigentum und die demokratische Diktatur dieser arbeitenden Mehrheit, des Proletariats. Er war Teil der ersten Welle des Sozialismus. Sein wichtigster Antipode, Pierre-Joseph Proudhon, ist in der Linken fast vergessen. Aber nur, wer Marx und Proudhon als lebendigen Widerspruch zusammendenkt, wer Freiheit vor allem durch Bündelung der Kräfte à la Marx und durch freiwillige, stets erneuerte Übereinkunft von unten à la Proudhon versteht, versteht etwas von einem lebendigen Sozialismus lebendiger Widersprüche. Die zweite Welle des Sozialismus, die des 20. Jahrhunderts, war durch den Widerspruch zwischen bolschewistischem Staatsparteisozialismus und sozialdemokratischem Sozialkapitalismus geprägt. Beide sind im Orkus der Geschichte verschwunden. Auch sie gehörten als feindliche Schwerstern zusammen. Jetzt beginnt – vielleicht – eine dritte Welle von Sozialismus.

 

Und vielleicht steht Eure Frage „Wem gehört die Stadt“ mit am Anfang dieses Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Ihr stellt die Wiedereroberung, die Erneuerung, den Aus- und Umbau des Öffentlichen ins Zentrum dieses Parteitages. Man könnte dabei an Marx Vision erinnern, dass es darum ginge, ein Gesellschaft aufzubauen, wo die freie Entwicklung jeder und jedes Einzelnen zur solidarischen Entwicklung aller beiträgt. Dies braucht vor allem eine Gesellschaft, die reich ist an allen zugänglichen Gemeingütern: beginnend bei sicheren öffentlichen Plätzen, modernen kulturellen Institutionen, die dem heutigen Zeitalter gerecht werden, Schulen, in die Kinder gerne gehen, Unternehmen mit guter sicherer Arbeit und guten Löhnen, Krankenhäuser, in denen Ärtinnen wie Ärzte, Schwestern und Pfleger Zeit haben für die Kranken, freies Wlan überall genauso wie einen entgeltfreien ÖPNV. Noch hat die estnische Hauptstadt Tallinn hier die Vorbildrolle. Da ist also viel Luft nach oben in Berlin.

Eine Stadt mit reichen Gemeingütern, mit lebendigen öffentlichen Gütern ist nicht wirtschaftsfeindlich, wie wir wissen, sondern gerade die Bedingung für neue Unternehmen, Start-Ups, für die Kulturwirtschaft. Die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts wird sowieso vor allem Sozial- und Kulturwirtschaft sein. Und dessen starkes Fundament sind die Gemeingüter und das Commoning. Nicht der alte Gegensatz zwischen sozialistischer Staatswirtschaft und kapitalistischer Privatwirtschaft darf im Zentrum einer zeitgemäßen sozialistischen Politik stehen, sondern die organische Verbindung zwischen Wirtschaftsformen in öffentlicher, kommunaler, genossenschaftlicher, kooperativer, privater Hand in wechselseitiger Verantwortung füreinander.

Marx hatte die Losung „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ von der sozialistischen Feministin Flora Tristan übernommen. Die zeitgemäße Kampflosung eines Sozialismus der dritten Welle, eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts, wäre: Commonerinnen und Commoner, Kämpferinnen und Kämpfer für die Gemeingüter eines Lebens jeder und jedes einzelnen vereinigt Euch hier und jetzt, in europäischer und globaler Solidarität. Wir haben viel zu verlieren und können ein reicheres, ein schöneres Leben im Miteinander gewinnen! Lasst uns Berlin zu der Global Cities der Commonerinnen und Commoner machen!