Wachsende Stadt, das heißt eben auch immer mehr

Rede des Landesvorsitzenden Klaus Lederer

[Manuskript – es gilt das gesprochene Wort.]

Liebe Genossinnen und Genossen,
sehr geehrte Damen und Herren,
werte Gäste,

unsere Regierenden haben – seit zwei Jahren etwa – eine neue Modeformel für sich entdeckt. Während ihrer Olympiabegeisterung ist sie ein bisschen in den Hintergrund gerückt, aber jetzt wird sie wieder eifrig gedroschen: Keine Sonntagsrede vergeht, ohne dass von der »wachsenden Stadt« Berlin die Rede ist. »Wachsende Stadt«: Das klingt richtig gut.

Wachstum hat für viele Menschen einen positiven Sound.

Wachstum steht für Entwicklung, für Dynamik, für etwas, an dem alle teilhaben können. Wachstum ist aufregend. Wo viele Menschen hingehen, das ist cool, da geschieht etwas, kann man was erleben, das darf man auf keinen Fall verpassen. Wenn unser Senat von der »wachsenden Stadt« redet, dann ist gemeint: Leute, es ist alles in Butter! Berlin ist attraktiv, Berlin hat Wirtschaftswachstum, Berlin ist eine Erfolgsgeschichte. Und wir, wir sind die, die diese Erfolgsgeschichte geschrieben haben.

Das ist IHRE Story, und wir werden diese Story in den nächsten Monaten noch sehr oft zu hören kriegen.
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

es gibt natürlich auch andere Stories. Zum Beispiel die Story des Flaschensammlers am S-Bahnhof Lichtenberg, der über 30 Jahre als Fernfahrer auf dem Bock gesessen hat. Dann ist seine Frau krank geworden und das bisschen Ersparte ging für Pflege und Medizin drauf. Jetzt lebt er im Weitlingkiez in einer Erdgeschosswohnung im Hinterhaus und hofft, dass er mit der nächsten Mieterhöhung nicht über die Bemessungsgrenze kommt. Weil: Wenn er weiter raus muss, dann wird der Weg zu den Orten, wo es viele Flaschen gibt, zu weit. Und dafür jeden Tag zwei S-Bahn-Tickets zahlen? Das lohnt den Aufwand dann kaum noch. Setzt euch einfach mal am Wochenende in einen belebten Park und zählt, wie viele Menschen innerhalb einer Stunde zum Flaschensammeln vorbei kommen. Bei mir sind es mittlerweile fast nie weniger als vier. Und das sind keineswegs nur Obdachlose. Das Leben in Berlin ist toll. Wenn man es sich leisten kann.

Viele können es sich immer weniger leisten. Und damit meine ich nicht nur die Vielen, die auf Hartz IV oder Grundsicherung angewiesen sind. Armut ist in Berlin ein Alltagserlebnis geworden.

Wachsende Stadt, das heißt eben immer mehr:

Geteilte Stadt.

Früher wohnten viele meiner Freunde, Kommilitonen und Bekannten noch irgendwo um die Ecke, in Prenzlauer Berg oder Mitte. Nachdem dort die Mieten durch die Decke geschossen sind, zogen sie nach Friedrichshain. Dann ging es weiter nach Kreuzberg oder Neukölln. Jetzt brummt auch da der Bär. Nur: Anders als früher finden sie heute in der Innenstadt kaum noch was, wohin sie ausweichen können. Also beißen sie entweder in den sauren Apfel und zahlen 600 Euro für die Zweizimmerwohnung. Oder sie ziehen aus. Wenn sie noch einen Job haben, in die Platte gleich nebenan, in den Wedding oder nach Schöneweide.

Aber auch das können sich längst nicht mehr alle leisten.

Wenn wir uns heute verabreden, dann langfristig. Nochmal schnell spontan runter auf ein Getränk an der Ecke, das geht mit vielen nicht mehr. Auch die Kieze verändern ihr Antlitz. Früher hast du um die Ecke eingekauft, heute fährt man ins Shoppingcenter. Dafür reiht sich in den Innenstadtbezirken eine Touristenkneipe an die nächste, dazwischen gibt es vielleicht noch ein paar Spätis, Frisiersalons, Saftläden und Edelboutiquen.

Klar, es gibt noch ein paar Oasen, wo ich noch die Leute aus der Nachbarschaft treffe - und nicht gleich in Gefahr gerate, von einer Horde britischer Touris auf Sauftour durch den Szenekiez überrollt zu werden.

Aber die werden immer weniger. Sowohl die Kneipen als auch die Leute, die ich da treffe. Die vertraute Kneipe, wo ich mit den Nachbarn gequatscht habe, wo es keine Rolle spielte, ob du Krankenschwester, Arbeiter, Grafiker oder Professorin bist, ist selten geworden. Denn ihre Kundschaft ist verschwunden. Und die 3 Euro für den halben Liter braucht Mancher, wer noch bleiben will, dann eben doch für die Miete.

Für Menschen, die auf Besuch sind, mag diese Veränderung ja total spannend und aufregend sein. Aber für mich geht damit ein Stück Lebensqualität, gehen sozialer Kontakt und Zusammenhalt verloren.

Wachsende Stadt, das heißt – so betrachtet – eben: Ganze Kieze werden umgekrempelt, Nachbarn ziehen weg, Freunde verschwinden. Ich habe das Glück, in einer Genossenschaftswohnung zu wohnen. Bei uns gibt es die intakte Hausgemeinschaft noch, wo mir im Urlaub der Briefkasten geleert wird und ich im Gegenzug die gefräßigen Hasen der Nachbarn füttere.

Aber schon gegenüber, im Aufgang mit den Eigentumswohnungen: Da gibt es keine alte Leute mehr, keine stabile Struktur der Bewohnerschaft. Wen fragen die eigentlich, wenn sie mal das Salz vergessen haben oder sich Werkzeug ausborgen wollen?

Solidarischer Umgang, gegenseitige Hilfe, Austausch, Kontakt und Kontroverse – all das, was Gesellschaft im besten Sinne ausmacht: Wie soll das eigentlich entstehen, wenn alle aneinander vorbeileben? Wenn der Umzugswagen einmal im Monat vor dem Haus steht oder drei der 7 Wohnungen im Aufgang als Urlaubsdomizile über AirBNB vermarktet werden?
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

ich bin ja viel in der Stadt unterwegs, in ganz verschiedenen Stadtteilen. Da gibt es bei mir um die Ecke die durchsanierten Fassaden, die ausgebauten Dachgeschosse, um jeden Baum ein Blumenbeet, ein Café neben dem anderen, jedes mit einem noch bizarreren Namen. Nur zwei S-Bahn-Stationen weiter, in der Müllerstraße im Wedding, ist es wie in einer anderen Welt. Da sieht es nicht nur wesentlich weniger gediegen aus. Da scheppert laute Musik auf der Straße. Menschen, nicht ausschließlich vertrauenerweckende, hängen am Bahnhof oder vor irgendwelchen Läden herum. Das ist schon ein krasser Unterschied.

Es ist auch ein Unterschied, ob du in Neukölln im Reuterkiez unterwegs bist oder in der Gropiusstadt. Oder in Treptow-Köpenick in Altglienicke, im Kosmosviertel, oder eben in Friedrichshagen. Oder ob du ins Hellersdorfer Siedlungsgebiet gehst oder in die Helle Mitte. Diese Unterschiedlichkeit gab es in Berlin schon immer. Das gehört ja irgendwie auch zum besonderen Reiz von Berlin. Da ist für Alle etwas dabei. Für die, die es trubeliger mögen, ebenso wie für jene, die es lieber etwas ruhiger haben, mehr Grün wollen oder lieber etwas urbaner… Nur: Welche alleinerziehende Verkäuferin bei Lidl kann sich denn heute noch für eine Wohnung in Alt-Mitte entscheiden? Wer sich die Mieten in solchen Kiezen nicht leisten kann, wird buchstäblich an den Rand gedrückt. Die müssen sehen, wo sie noch bleiben können. Diese Welt kommt in den Touristenbroschüren und Abendnachrichten kaum vor. Und wenn, dann mit Problemen, die eben dort entstehen, wo sich Armut und Perspektivlosigkeit ballen.

Aber das ist der Trend der Entwicklung: Sage mir, wo du wohnst, und ich sage dir, wer du bist…
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

ich will keine Stadt, die sich in Reich und Arm aufteilt. Ich will nicht, dass Berlin immer mehr zu einer Stadt wird, in der es gute und schlechte Viertel gibt – in der die Armen abgeschnitten in Großsiedlungen am Stadtrand wohnen und die Reichen aus aller Welt für sich und ihre Kinder Townhouses errichten oder ganze Mietshäuser in Eigentumswohnungen verwandeln. Ich will keine Stadt, in der man von der Adresse auf den sozialen Status schließen kann.

Ich will, dass wir diesem Trend wirksam etwas entgegensetzen!

Ja, wir sind nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung. Wir haben es Anfang der 2000er zugelassen, dass kommunale Wohnungen verkauft wurden. Wir haben unterschätzt, welche Landnahme der Immobilienverwerter ein prosperierendes Berlin nach sich ziehen würde. Wir haben zu spät realisiert, dass das vagabundierende Kapital den Berliner Wohnraum nicht als sichere Wertanlage, sondern als profitträchtige Spekulationsanlage entdeckt hatte. An dieser Verantwortung tragen wir noch heute. Und das wird auch nur zum Teil dadurch aufgehoben, dass wir 2006 gegenüber der SPD den Privatisierungsstopp durchgesetzt haben, als beispielsweise die Grünen noch meinten, es müsste viel mehr verkauft werden. Das wird auch nicht dadurch aufgehoben, dass wir jahrelang von der SPD das gefordert haben, was jetzt Stück für Stück, viel zu spät, auch geschieht. Denn selbst all das wird kaum reichen, der Entwicklung Herr zu werden. Für Menschen mit geringen Einkommen gibt es nämlich längst fast keinen bezahlbaren Wohnraum mehr.

Deshalb ist es gut, dass es das Mietenvolksbegehren gibt, das die Versorgung genau dieser Menschen auf die politische Agenda der Stadt setzt. Da geht es mir jetzt überhaupt nicht um jeden einzelnen Paragraphen: Es ist wichtig, dass endlich überhaupt darüber geredet wird. Dass es nicht dabei bleibt, dass sich die Stadt mit den Jubelmeldungen des Senats zufrieden gibt, wie viele Wohnungen irgendwo neu gebaut werden, ohne darüber zu reden, dass die für Geringverdienende schlicht unbezahlbar sind!

Das ist ein Verdienst der organisierten Initiativen, die viel Arbeit investiert haben. Ich bin froh darüber – und dafür müssen wir einfach »Danke« sagen.
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

wenn die Koalition und der Senat ihre Story von der wachsenden Stadt erzählen, darf natürlich auch das vielfältige Kulturangebot nicht fehlen. Das spielt sich aber auch nicht überall ab. Als junger Mensch kannst du vielleicht noch abends in die Stadt fahren, durch die Clubs und Kneipen ziehen – und morgens dann mit der S-Bahn zurück.

Doch es gibt ja auch Menschen, die sind über 40 oder 50, haben Kinder, für die ist das nix mehr. Und nicht alle haben das Geld, jeden Monat ins Konzert oder Theater zu gehen. Die müssen sehen, dass sie so einigermaßen über die Runden kommen. Es sind ja nicht nur die Mieten, die steigen. Auch Strom, Heizung, Monatskarte werden Jahr für Jahr teurer. Wasser ist es immer noch. Die 15 Euro Preissenkung im Jahr, die die Wasserbetriebe nach Kartellamtsverfügung erlassen haben, für die sich die Koalition so feiert: Die sind ja auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Für Viele ist das vielfältige Kulturangebot in Berlin daher eher etwas, was sie aus den Abendnachrichten oder dem Radio kennen. Eine Bekannte hat mir das mal vorgerechnet. Theaterkarte kostet 20-30 Euro, dann will man davor vielleicht noch was essen oder zumindest ein Glas trinken. Oder danach. Da bist du in Mitte ganz schnell mit 20 Euro dabei. Und wenn es dann doch etwas später geworden ist, der Nachtbus ist gerade weg – oder sie will als Frau nachts nicht unbedingt mit der S-Bahn nach Spandau raus – legst du fürs Taxi auch noch mal 30 Euro hin. Schon bist du bei 70, 80 Euro – und das war dann echt noch keine Krösus-Nummer!

Beim Nettoverdienst von 1.700 Euro bleiben ihr im Monat – wenn´s gut läuft und sie sich nicht groß einschränkt, aber eben auch keine größeren Ausgaben hat – vielleicht 100, 200 Euro über. Da überlegst du dir dann schon, ob du dir so einen Abend leisten willst, erst recht, ob du ihn dir regelmäßig leisten kannst. Diese 1.700 Euro meiner Bekannten entsprechen nun zufällig ungefähr dem durchschnittlichen Nettoeinkommen in Berlin. Dem Durchschnitt. Das heißt: Viele liegen noch deutlich darunter.

Damit ist die Frage beantwortet, wie oft diese Menschen auch nur einmal im Monat in den Genuss eines solchen Kulturereignisses kommen. Und sie ist alleinstehend, die Kinder sind aus dem Haus.

Habt Ihr mal geschaut, was heutzutage der Eintritt in den Tierpark kostet? Großes Familienticket: 32 Euro. Dann kommt noch die Wurst mit Pommes dazu, wenn Töchterchen und Sohnemann traurige Augen machen, oder ein Eis und eine Brause. Und schon kommen schnell wieder 50, 60 Euro zusammen. Das muss man sich erstmal leisten können.

Wachsende Stadt, das heißt eben auch immer mehr: Teure Stadt.

Und nehmen wir nochmal das Beispiel von vorhin: Frau, Alleinerziehend, tätig als Verkäuferin bei Lidl. Was nützt dieser Frau das großartige Kulturangebot, wenn sie sich den Zehner für das Museum, den Zwanziger für das Theater oder gar den Hunderter für das Rockkonzert kaum leisten kann? Ich will, dass wir DARÜBER reden, wenn der Senat von der wachsenden Stadt spricht.

Und ich will, dass sich daran etwas ändert!

Kultur ist ein Lebensmittel – nicht nur für Gäste Berlins und die Kulturschickeria, sondern für alle Berlinerinnen und Berliner!
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

schließlich gehören zur Erzählung des Senats und der Koalition von der »wachsenden Stadt« die Jubelmeldungen über das Jobwunder Berlin. Dass Studis nebenher jobben, war eigentlich immer so. Daran haben wir uns gewöhnt. Dass Menschen sich mit mehreren unsicheren Jobs durchschlagen und davon ihre Existenz bestreiten müssen, ist in Berlin mittlerweile aber ebenso alltäglich, wie, dass Menschen im Rentenalter die Werbung für die Briefkästen austragen.

Ein Bekannter von mir hilft immer mal in der Kneipe aus, jobbt vormittags manchmal in einer Kantine und nachmittags mal als Lagerarbeiter. Nebenbei versucht er, sich mit einem Imbissstand selbständig zu machen. Gelernt hat er Garten- und Landschaftspflege, aber da war in Berlin nichts zu bekommen. Für ihn ist es das Höchste, wenn er mal einen Tag frei hat. Einfach mal komplett freimachen kann. Ans Altwerden denkt er lieber nicht. Ja, es entstehen viele neue Arbeitsplätze in der wachsenden Stadt Berlin. Aber was für welche? Zu welchem Gehalt, zu welchen Bedingungen, mit welcher Absicherung? Die Bauarbeiter der Mall of Berlin warten immer noch auf ihren Lohn. Tellerwäscher im Luxusrestaurant, Zimmermädchen im Luxushotel, Pflegetätigkeiten und kleine selbständige Jobs, manchmal auch nur zum Schein. Selbst die angesagten Jobs in den vielen, oft beschworenen Start-Ups sind oft nur temporär…

Wer sich von Auftrag zu Auftrag hangeln muss, von Tagelohn zu Tagelohn, wie soll der sein Leben planen? Wie soll jemand in einer solchen Situation eine Familie gründen? Oder sogar sich im Kiez einmischen, demokratisch beteiligen?

Wachsende Stadt, das heißt eben auch immer mehr: Prekäre Stadt.

Wann hat darüber zum letzten Mal irgendeine Senatorin, irgendein Senator, zusammenhängend reflektiert? Ich finde das inakzeptabel. Ich will nicht, dass immer mehr Menschen trotz täglicher Schinderei keine Perspektive für sich sehen. Es kann doch keine Perspektive für Berlin geben, wenn nicht die Berlinerinnen und Berliner sie entwickeln können!

Ich will, dass wir das thematisieren. Und ich will auch, dass wir das ändern. Soweit uns das hier in Berlin möglich ist.

Klar: Stadt- und Landespolitik haben ihre Grenzen. Ich glaube, dass viele Menschen das auch wissen. Aber es ist doch das Mindeste, dass die Spielräume, die existieren, genutzt werden. Und dass diese soziale Entwicklung in der Stadtpolitik eine Rolle spielt, das ist doch wohl nicht zu viel verlangt! Und wer sollte das denn tun, wenn nicht wir?
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

den Senat und die Koalition interessiert das nicht, der Senat hat fertig. Ein letztes praktisches Beispiel dafür ist die Flüchtlingspolitik, die hier seit Jahren verfolgt wird. Wenn unsere Senatorinnen und Senatoren von Berlin als »wachsender Stadt« sprechen, müsst ihr mal genau hinhören. Da kommt immer auch irgendwann, früher oder später, die Phrase von der großartigen Weltoffenheit, die hier in Berlin herrscht.

Klar, wenn Menschen als Touristen oder Investoren Geld in die Stadt bringen, dann ist dieser Senat sehr offen. Welche Stadt ist das eigentlich nicht…? Die Nagelprobe findet aber statt, wenn Menschen in Not hier stranden. Und da zeigt sich:

Das ist für die nix als eine Stadt-Marketing-Parole. Berlin ist nicht in der Lage, den Menschen, die es bis hierher geschafft haben, eine würdige Aufnahme zu gewähren.

Die können sich nicht vorstellen, wie es sich für einen Flüchtenden anfühlen muss, wenn er oder sie nach monatelanger Flucht endlich hier angekommen ist, dann vor der Zentralen Aufnahmestelle steht, wieder weggeschickt wird, weil dort die Kapazitäten nicht ausreichen. Denen wird dann geraten, sie sollen doch bitte versuchen, für ein paar Tage bei Bekannten unterzukommen. Hallo?

Das geht doch nicht! Das ist so beschämend, das will ich nicht haben in unserer Stadt! Der Senat sagt, er sei vom Ansturm der Flüchtenden völlig überfahren worden. Das muss man sich mal vorstellen.

Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge teilt seit geraumer Zeit immer wieder mit: Es sind weltweit mehr Menschen auf der Flucht als jemals seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Und SPD und CDU im Abgeordnetenhaus räsonnieren darüber, welches Elend Schlepperbanden über uns brächten. Schauen die niemals Nachrichten?

Nein, es ist wie mit den anderen Dingen auch: Es interessiert sie einfach nicht. Sie haben die Entwicklung verschlafen, sind untätig geblieben – solange, bis die Probleme sich nicht mehr unter den Teppich kehren ließen. Weltoffenheit sieht anders aus. Die Berlinerinnen und Berliner sind da viel weiter als der Senat. Es ist großartig zu erleben, wie viele Menschen zur Hilfe bereit sind. Das zeigt beispielsweise die Resonanz auf unsere Spenden- und Unterstützungsaktivitäten.

Aber auch hier gilt: Die Koalition ist eher Bremser als Helfer. Erst wird gepennt, dann bricht hektische Betriebsamkeit aus, und schließlich wird über die Köpfe der Leute hinweg irgendetwas entschieden, was sie vor vollendete Tatsachen stellt. Wie beispielsweise die Initiative »Welcome Refugees« aus dem Allende-Viertel, die über Nacht mit der Entscheidung für den Standort des Containerdorfs konfrontiert wurde. Die dagegen protestiert hat, sich selbstverständlich jetzt um die Geflüchteten kümmert und ihnen hilft: Sportmöglichkeiten wurden geschaffen, ein Garten angelegt, regelmäßig Kaffee mit den Anwohnern, ein Kiezfest ist geplant. Der Senat steuert 5.000 Euro (!!!) pro Containerdorf für derartige Aktivitäten bei! Aber für die privaten Heimbetreiber gibt es Verträge, die offenbar Gelddruckmaschinen darstellen.

Auch hier gilt: Sie haben keinen Plan. Da werden Turnhallen requiriert, fällt Vereinssport aus, obwohl anderenorts Häuser leer stehen, die genutzt werden könnten. In der Beermannstraße stehen zwei Gebäude seit Monaten leer, die sollen der A 100 weichen. Carsten Schatz hat selbst im Abgeordnetenhaus nachgefragt, es führte kein Weg rein. Die stehen immer noch da, die Häuser.

Das will ich nicht akzeptieren! Ich will eine Politik, die die Leute für mündig hält, sie ernst nimmt, mit ihnen eine offene Debatte pflegt, ihre Organisation unterstützt. Eine Politik, die nicht immer sagt, was alles nicht geht, sondern Möglichkeiten aufzeigt und Alternativen zulässt.
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

wenn SIE von der wachsenden Stadt reden, müssen WIR darüber sprechen, was das für immer mehr Berlinerinnen und Berliner bedeutet: geteilte Stadt, teure Stadt, prekäre Stadt.

Wenn Koalition und Senat wenigstens einen Plan hätten, über den sich diskutieren ließe. Oder wenn auf ihre Ankündigungen mal irgendetwas folgen würde. Aber genau das geschieht nicht, das können wir durchexerzieren:

  • Energiewende, Rekommunalisierung der Netze, Aufbau eines eigenen Stadtwerks: Was haben sie uns nicht alles erzählt, was sie tun würden. Wir haben immer noch weder ein Stadtwerk noch kommunale Energienetze, und wenn es so weiter geht, bleibt der Zugriff der großen Energiekonzerne einfach bestehen, geht die Energiewende für Berlin baden.
  • Wohnungsbau: Erst jahrelange Debatten, dann sollen es 1000 Wohnungen im Jahr sein, mit einem Einstieg bei 6,50 Euro Kaltmiete. Unter dem Druck des Mietenvolksbegehrens kündigen sie jetzt mehr an. Ich bin gespannt, wie viele Jahre diesmal diskutiert wird.
  • Investoren dagegen wird der rote Teppich ausgerollt, jüngstes Beispiel: Magnus-Haus, am Ensemble der Museumsinsel, des UNESCO-Weltkulturerbes – Siemens-Hauptstadtrepräsentanz. Trotz ablehnender Stellungnahme sämtlicher Denkmalschutzinstanzen Mehr-Etagen-Bauklotz
  • Ämter, Öffentlicher Dienst: Nächster Termin im Bürgeramt laut Internet 15. Juli in Hohenschönhausen. Sie kriegen es nicht hin, die personelle Ausstattung endlich zu verbessern – und das gilt nahezu überall im öffentlichen Dienst.
  • Das Personalproblem ist auch ein Investitions-, Vollzugs- und Kontrollproblem: ich kann Unsummen für die Investition in Infrastrukturen bereitstellen. Wenn mir das Personal fehlt, um den Bau durchzuführen, bleibt es einfach liegen! Das Personal muss man gewinnen. Aber wie? Befristete Verträge und 30% Bezahlung hinter NRW, 10% hinter Brandenburg…?
  • Oder Stichwort Investitionen: Michael Müller hat mit großer Geste ein Schultoilettensanierungsprogramm angekündigt. 20 Millionen lässt er sich das kosten. Das sind gut 1,5 Millionen pro Bezirk. Wisst Ihr, was EINE Strangsanierung kostet? Fast eine Million. Und wie viele Schulen gibt es im Bezirk? Merkt Ihr selbst, nicht wahr?

So kann es in Berlin nicht weitergehen. Ich will, dass das aufhört. Ich will, dass diese hilflos-hektischen Reaktionen ein Ende haben. Ich will, dass Berlin ein durchdachtes und untersetztes Investitionsprogramm bekommt, und dass dafür gesorgt wird, dass die Menschen da sind, die es realisieren können!

Ja, es gibt Veränderungen in Berlin, rasante und dynamische Veränderungen. Aber diese Veränderungen werden von vielen Menschen nicht als positiv wahrgenommen. Die Koalition tut im Grunde nichts. Seit dreieinhalb Jahren nichts.

Und wenn sich Menschen gegen diese negativen Veränderungen, gegen dieses Business as Usual wehren, werden sie ausgebremst und denunziert. Der Senat tut also nicht nur nichts, sondern er hat auch manches verhindert:

Der Umgang mit dem Energievolksbegehren war bereits ein Menetekel für den weiteren Umgang mit Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie. Es ist jetzt anderthalb Jahre her, dass das Bündnis »Neue Energie für Berlin« mit allen möglichen Tricks ausgekontert wurde. Spätestens, seitdem die SPD beim Volksentscheid über das Tempelhofer Feld ihr Fiasko erlitten hat, heißt das Motto: Beim nächsten Mal lassen wir es überhaupt nicht soweit kommen. Seitdem erleben wir, wie direkte Demokratie ganz offensiv ausgehebelt wird.

Da war die Idee der unverbindlichen Volksentscheide von oben, um Olympia zu ratifizieren. Ist in die Hose gegangen. In Sachen Buckower Felder und Mauerpark hat der Senat die Menschen einfach gegen die Wand laufen lassen. Er hat die Planungsverfahren an sich gezogen. Aus, vorbei mit Bürgerbegehren. Die Immobilienwirtschaft freut es.

Und jetzt kommen auch noch die Müllerschen Verschwörungstheorien: Direkte Demokratie als DIE Möglichkeit großer Lobbygruppen, ihre Interessen gegen das Gemeinwohl durchzusetzen. Auf dessen Erkenntnis und Repräsentation er und die SPD angeblich ein Monopol haben. »Berlin verstehen«, ihr erinnert euch…

Ich halte das hier einfach noch mal fest:

Wenn es in den letzten Jahren überhaupt mal so etwas wie Bewegung in der Stadtpolitik gegeben hat, dann nur, weil es Volksbegehren und Volksentscheide gab. Und die sind eigentlich in allen Fällen gegen die organisierten Lobbyverbände in der Stadt und gegen den Senat durchgesetzt worden. Die brauchen auch keine Volksbegehren, die haben ja Union und SPD!

Wer also derartigen Unsinn erzählt, offenbart sein Politikverständnis und schafft auch Politikverdrossenheit. Weil den Leuten die Tasche vollgehauen wird. Und manchmal wird es dann auch richtig grotesk: Etwa wenn der Baustadtrat von Reinickendorf, CDU, mit der Polizei zu den von Verdrängung bedrohten, protestierenden Mieterinnen und Mietern in die Siedlung am Steinberg kommt, damit sie ihre Protestplakate im Viertel entfernen.

Also der kommt dahin. Nicht, um den Leuten zu helfen. Sondern wegen der Plakate im Straßenbild. Deswegen läuft er dort auf, das muss man sich erstmal ausmalen!

(Er musste dann freilich unverrichteter Dinge wieder abziehen. Denn die Mietergemeinschaft hatte eine Dauergenehmigung von der Versammlungsbehörde.)

Das zeigt aber, wo die Koalition die Probleme sieht. Ich bin überzeugt davon, das geht auch anders. Und ich will, dass das anders wird. WIR müssen das ändern und ich bin bereit dazu.

Sind wir als Partei dazu auch bereit?
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

es sind jetzt keine anderthalb Jahre mehr, dann sind in Berlin wieder Wahlen. Wie ist es da eigentlich um uns bestellt? Wir hatten seit 2011 eine Menge zu verdauen. Und eine Menge zu tun. Auf der Straße, in den Initiativen, in den Parlamenten, in den Bezirksämtern. Wir haben hart gearbeitet, um uns nach der Wahlniederlage von 2011 neu zu sortieren.

Wir haben inhaltlich gearbeitet, konzeptionell einiges in die Spur gebracht. Bei unserer Leitbilddiskussion haben sich viele beteiligt, ob es um Mietenpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Regional- und Strukturpolitik ging.

Auch unsere Fraktionen haben immer wieder vorgelegt. Im Abgeordnetenhaus zum Beispiel ein Personalkonzept für den öffentlichen Dienst, ein flüchtlingspolitisches Konzept, ein Konzept für die Ausweitung von direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung.

Heute diskutieren wir unsere Ideen für Mobilität in Berlin, die für alle erschwinglich ist. Dabei streiten wir uns, und das ist auch ein guter Streit. Ein Streit, der zeigt, dass wir uns mit unterschiedlichen Sichtweisen um die beste Lösung bemühen. Dass wir mitdenken, welche Folgen welche Konzepte für wen haben. Dass wir auch Fragen und Ängste ernst nehmen und nicht abtun: Schafft die Öffi-Flatrate wirklich einen solidarischeren Zugang, einen besseren Personennahverkehr? Und wenn, unter welchen Bedingungen?

Von dieser Sorte Streit sollten wir uns ruhig noch mehr leisten.

Ich glaube, dass wir uns, was das angeht, weiterentwickelt haben. Wir haben uns verändert und sind auch zusammengewachsen. Dafür habe ich mich eingesetzt und ich will das auch fortführen.

Wenn wir politisch erfolgreich sein wollen, dann muss aber noch etwas hinzukommen:

Wir müssen zeigen, dass wir die Stadt verändern können – und dass wir Berlin verändern wollen!

Es ist nach wie vor so, dass wir politisch nicht in der Offensive sind. Viele Menschen trauen uns nicht zu, dass wir wirklich etwas verändern können – mit ihnen, nicht gegen sie oder über ihre Köpfe hinweg.

Jemandem trauen – da geht es nicht nur um die praktische Realisierbarkeit, die Umsetzbarkeit von tollen Ideen und Konzepten. Jemandem trauen – da schwingt das Wort »Vertrauen« mit.

Wenn ich im Freundeskreis so mit Leuten rede – die wissen ja meistens, was ich so tue und wo ich stehe: Die kriegen von unseren ganzen Konzepten selten etwas mit. Ganz viel hängt daran, welches Image sie mit uns verbinden, was wir ausstrahlen und was sie davon wahrnehmen. Ich will damit sagen: Sympathie für eine politische Partei hängt zum einen an der Frage, ob sie meine Interessen vertritt. Sympathie für eine politische Partei entscheidet sich aber mindestens genauso an der »B-Note«, es geht um emotionale Bezüge:

Welches politische Angebot passt zu mir? Was spricht mich an? Welche konkreten, praktischen Berührungspunkte hat das zu mir? Kann ich mich damit identifizieren? Wie werde ich angesprochen?

Werden wir als LINKE Berlin – sei es über die Medien, sei es persönlich vermittelt – als angenehm, offen, gewinnbringend eingeschätzt? Oder als selbstbezogen, besserwisserisch, als geschlossener Zirkel?

Da geht es dann eben nicht nur um Inhalte, sondern auch um unsere Art und Weise, Politik zu machen. Das meine ich, wenn ich von Vertrauen spreche. Da sehe ich nach wie vor auch Probleme bei uns. Wenn uns Menschen in dem Sinne vertrauen sollen, dann müssen wir uns vor allem selbst vertrauen – und uns auch etwas zutrauen. Was müssen wir da tun? Was ist wichtig für das nächste Jahr?

Wir müssen in der Tat an einem Strang ziehen. Das ist eine Gemeinschaftsanstrengung, die Kräfte zu bündeln und an unseren inhaltlichen Schwerpunkten in die Offensive zu kommen.

Wir müssen Politik ganz konkret aus den eigenen Erfahrungen heraus entwickeln und auch vermitteln.

Wir müssen niemandem die Welt erklären. Instinktiv kriegen schon Viele mit einem sehr feinen Gespür mit, dass da was schief läuft. Wir müssen immer wieder auftauchen, zuhören, motivieren, aktiv sein, ganz unmittelbar. Das ist unser wirksamstes Rezept für politischen Erfolg.

Und natürlich: Das heißt für den Herbst, eine lebendige, gern streitbare, Wahlprogrammdebatte hinzubekommen. Und dann über das Programm und auf dieser Grundlage über unser Personal zu entscheiden.
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

da in den zurückliegenden Wochen auch oft über die Einheit und Geschlossenheit der Partei gesprochen wurde, gestattet mir bitte eine Anmerkung dazu: »Einheit und Geschlossenheit« hat bei mir keinen so guten Klang. Das klingt für mich nach Disziplinierung, Einebnen inhaltlicher Konflikte, Friedhofsruhe. Die will ich nicht.

Einheit, vielleicht im positiven Sinne verstanden, erwächst nicht aus Appellen und Bekenntnissen, sondern nur aus gemeinsamer Politik. Daran haben wir gearbeitet und müssen es weiter tun.

Das heißt: Konflikte auch sichtbar machen, aushalten, produktiv behandeln, entscheiden. Bei der SPD oder der CDU kann man sehen, wie dort Einheit hergestellt wird. Die Parteitage entscheiden das eine, die Abgeordneten machen das andere. Ihre Loyalität liegt dort, wo sie aufgestellt werden. Der Zank geht um Posten und Pöstchen. Deshalb ist es auch so egal, was Parteitage beschließen. Ich will sowas nicht.

Und wenn ich vorhin gesagt habe, viele Menschen trauen uns nicht zu, was zu verändern, dann folgt das auch einer ganz praktischen Erfahrung mit der Linken. Immer, wenn wir einen Erfolg haben, fallen wir danach erst einmal übereinander her. Denkt an die Bundestagswahl 2009. Wie oft höre ich über uns: »DIE LINKEN, die sind viel zu zerstritten.« In eine andere Sprache übersetzt heißt das: Die Linken, die sind doch so mit sich beschäftigt. Da kann ich mir kaum vorstellen, dass sie für meine Themen, Sorgen und Probleme noch etwas übrig haben.
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

ich habe vorhin schon mal gesagt, wir müssen zeigen, dass wir aus unseren Fehlern während der rot-roten Zeit lernen und gelernt haben. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, nur einen einzigen Wunsch, an unseren Landesverband…

Lasst uns doch einfach mal auch HIER zeigen, dass wir in der Lage sind, aus unseren Fehlern zu lernen! Wir sind verdammt nochmal nicht für uns selbst da! DAS ist das, was wir aussenden müssen, liebe Genossinnen und Genossen! Natürlich müssen wir uns weiterhin verändern. Das nehme ich auch ganz persönlich für mich ernst. Ich habe daran mitarbeiten können, gravierende Veränderungen in der Stadtpolitik durchzusetzen, etwa bei direkter Demokratie oder für die öffentlichen Unternehmen. Das lief damals gegen krassen Widerstand aus der SPD. Ich habe Fehler gemacht, manchmal auch aus einer Situation der Hilflosigkeit heraus. Wie beim Wasservolksbegehren zum Beispiel. Mir sind auch Zweifel alles andere als fremd. Das gehört alles dazu.

Die Frage ist doch aber: Können wir unsere Stärken und Schwächen, unsere Überzeugungen und Zweifel, Erfolge und Misserfolge, unsere Differenzen und Gemeinsamkeiten in überzeugende politische Gestaltung verwandeln?

Sprechen wir also – statt von Einheit – lieber von Gemeinsamkeit. Da habe ich auch eine Menge lernen dürfen, auch innerparteilich. Wir kriegen eine Menge hin, wenn wir wollen. Gemeinsamkeit schließt durchaus unterschiedliche Interessen ein, die es auszuhalten gilt. Aber nicht mit dem Ziel der Dominanz. Gemeinsamkeit ist auch nicht die friedliche Koexistenz unterschiedlichster Strömungen bei Aufteilung der Partei in Beutegebiete und Einflusszonen.

Wir brauchen die Veränderung. Ich will diese Veränderung auch. Klar muss das Personal, welches unsere Inhalte repräsentieren soll, auch dafür stehen: Für Offenheit, gesamtstädtische Ausstrahlung, für fachliche Kompetenz, für Verankerung in der Basisarbeit und im sozialen Umfeld. Und ich will definitiv nicht länger der jüngste Abgeordnete unserer Fraktion sein.

Aber da bin ich sehr zuversichtlich. Vor allem, wenn wir nicht vergessen, dass es schöner – und am Ende auch erfüllender und politisch wichtiger – ist, für mehr Abgeordnete im nächsten Landesparlament zu kämpfen, als miteinander darum zu zanken, wer davon die meisten abkriegt. Ich wünsche mir – und dafür bin ich bereit –, dass wir all unsere Kraft auf die erste Option werfen. Ich will nicht, dass wir uns gemütlich einrichten in der gewohnten Routine, in den gewohnten Rollen, in den innerparteilichen Gräben oder wo sonst noch.

Wir sollten jetzt einfach mal den nächsten Schritt gehen. Für eine konsistente Erzählung linker Stadtpolitik. Für unsere Stories, die wir der Leier von der wachsenden Stadt entgegensetzen können. Damit sich die Verhältnisse hier ändern!
 

Liebe Genossinnen und Genossen,

SPD und CDU freuen sich über die wachsende Stadt, über steigende Umsatz-, Tourismus-, Wirtschaftswachstums- und Beschäftigungszahlen, über wachsende Steuereinnahmen. Und sie tun so, als sei das ihr Verdienst. (Dabei wurden die Grundlagen dafür noch unter Rot-Rot gelegt.)

Einen Aspekt vergessen sie dabei gern. Ich meine den Aspekt, dass Berlin – wie ganz Deutschland – der Krisengewinnler der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise ist. Jahr für Jahr kommen Tausende von gut ausgebildeten jungen Menschen in unsere Stadt, weil sie in ihrer Heimat für sich keine Zukunftsperspektive mehr sehen.

So gut das Berlin auch tut: Für Europa ist das keine gute Entwicklung.

Die deutsche Austeritätspolitik bereitet lediglich die nächste Krise vor. Eine Politik, die ganzen Volkswirtschaften die Atemluft abschnürt, ihnen jede Entwicklungschance nimmt, treibt sie in den Abgrund. Und wer glaubt, dass das für die Entwicklung hierzulande ohne Folgen bleibt, macht sich etwas vor. Wir brauchen dringlicher denn je eine Politik, die auf wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich setzt statt auf permanente Verschärfung der Konkurrenz. Eine Politik der nachhaltigen, langfristigen Entwicklung, die den Menschen zugutekommt und nicht den Kapitaleignern. Das muss doch drin sein!

Was für Europa und den Globus im Großen gilt, gilt für Berlin im Kleinen. Berlin ist ja keine Insel.

Wir erleben in Berlin eine Entwicklung, die im Kontext der gesamtdeutschen und europäischen Entwicklung stattfindet. Eine Entwicklung, der die Senats- und Koalitionspolitik hinterherläuft – weil sie kein Verständnis von ihr hat und weil sie sich nicht von ihren Dogmen zu lösen vermag.

Berlin scheint inzwischen die Welthauptstadt dieser Dogmen zu sein. Ob Senat oder Bundesregierung, da passen sie zusammen: Sie lieben die schwarze Null und ein autoritäres Staatsverständnis. Sie glauben an die heilsame Wirkung der Konkurrenz – die CDU mit ihrem Dogma »Privat vor Öffentlich«, die SPD mit ihrem Dogma, »Öffentlich, aber wie Privat«. Einig sind sie sich in ihrem technokratischen Kotau vor den Märkten und den Interessen der Vermögenden. Das Versprechen von Demokratie und sozialer Entwicklung verkommt damit zur Farce.

Merkel, Schäuble, Gabriel und ihre Ultras – sie alle sitzen AUCH hier in Berlin. Und sie sitzen derzeit sicher im Sattel. Nicht, weil sie ein so hervorragendes Krisenmanagement beherrschen. Sondern weil diese Politik vielen Menschen hierzulande tatsächlich immer noch als alternativlos erscheint. Auch wenn sie instinktiv mitkriegen: Das geht so nicht mehr ewig gut…

Unsere Schwäche, die Schwäche der Linken – und damit meine ich nicht nur und ausschließlich uns, die Partei DIE LINKE, sondern die gesellschaftliche Linke in ihrer Breite – ist ihre Stärke.

Das darf so nicht bleiben. Und das können wir nur selbst ändern, zumindest zu beitragen! Deshalb bin ich nicht nur dafür, dass wir alle miteinander und mit möglichst vielen Freundinnen und Freunden, vielleicht auch mal mit Fahnen (!), am 20. Juni zur Demo »Europa anders machen« gehen – und danach zum Refugees-Welcome-Konzert am Brandenburger Tor, das wir mit anderen gemeinsam organisieren.

Ich finde, wir sollten auch die Zeit bis zur Wahl – und den Wahlkampf selbst – nutzen, um diese Zusammenhänge – die zwischen europäischer Politik und der hier in Berlin – offensiv aufzugreifen. Das ist nicht einfach nur irgendeine Landtagswahl, im September nächsten Jahres. Das ist die Wahl in der Bundeshauptstadt! Es ist nicht nur politisch wichtig, sondern es wäre mir auch eine persönliche Genugtuung, wenn wir die Chance ergreifen, denen hier, wo sie sich stark und hegemonial wähnen, richtig Feuer unterm Hintern zu machen.

Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um eine selbstbewusste, engagierte, geschlossene und gestärkte LINKE in der Homebase der deutschen Austeritäts-Ultras.

Also zeigen wir es ihnen!