Zeigen wir, dass wir es drauf haben!

Rede von Klaus Lederer


[ Manuskript – es gilt das gesprochene Wort

 

Liebe Genossinnen und Genossen,
sehr geehrte Damen und Herren,
werte Gäste,

der Abend der Bundestagswahl liegt nun schon wieder zwei Monate zurück. Das Ergebnis ist bekannt und ich denke, wir haben allen Grund, stolz darauf zu sein. Als wir im vergangenen Jahr ankündigten, all unsere Mandate verteidigen zu wollen, vier Direktmandate und ein Listenmandat, glaubten die Wenigsten – glaubten nicht einmal wir selbst alle – daran. Nun sind es nicht nur fünf, sondern sogar sechs Mandate geworden!

Das haben wir gut hinbekommen, liebe Genossinnen und Genossen! Und das haben wir vor allem hinbekommen, weil wir uns zusammengerauft und gemeinsam in einen engagierten und leidenschaftlichen Wahlkampf gestürzt haben.

Danke sagen will ich aber auch all jenen, die sich nach den aufreibenden Wahlkampfwochen nicht zurückgelehnt, sondern weitergemacht haben. Beim Energievolksentscheid hat es dann am Ende leider doch nicht ganz gereicht. Knapp 21.000 Stimmen fehlten. Das war bitter, weil ja viele von uns – schon im Frühjahr, bei Wind und Wetter, Schnee und Eis – stundenlang auf der Straße gewesen waren, um Unterschriften zu sammeln. Auch da glaubten ja manche nicht, dass wir unser selbstgestecktes Ziel erreichen würden: 50.000 Unterschriften. Wir haben es aber geschafft!

Für mich war es ein gutes Gefühl zu erleben, wie sich da alle eingesetzt haben – von Zehlendorf bis Buch, in Friedrichshagen ebenso wie im Wedding, in Neukölln, Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf oder Kreuzberg-Friedrichshain. Ich erinnere mich an die gegenseitige Unterstützung und Solidarität sehr gern!

Auch ich war am 3. November abends ein bisschen geknickt – es war so verdammt eng! – und musste erst einmal eine Nacht darüber schlafen, um zu verstehen, was wir hier dennoch geschafft haben:

  • 600.000 Menschen haben ganz klar Ja gesagt zu einem Rückkauf der Netze und zur Errichtung eines echten kommunalen Stadtwerks,
  • 600.000 Menschen ist es wichtig, dass die Energieversorgung nicht in der Hand von Konzernen liegt,
  • 600.000 Menschen haben sich weder von einer millionenschweren und teilweise rechtswidrigen Vattenfall-Kampagne irre machen lassen noch von einem vermeintlichen Faktenbündnis,
  • 600.000 Menschen haben den Tricksereien von SPD und CDU getrotzt und sind zur Abstimmung gegangen.

 
Liebe Genossinnen und Genossen,

für das Quorum hat es ganz knapp nicht gereicht. Aber um ein klares politisches Signal auszusenden, um diesem Senat und der SPD-CDU-Koalition Beine zu machen, dazu hat es allemal gereicht! Ich bin ganz sicher: Ohne diese Kampagne würde sich Berlin heute nicht um das Stromnetz bewerben. Ohne diese Kampagne gäbe es nicht einmal eine Diskussion um ein Stadtwerk und den Koalitionsplan einer Miniaturausgabe! Es gibt also immerhin eine Chance, hier vorwärts zu kommen – darüber werden wir nachher ja auch noch sprechen.

Dass es jetzt zumindest diese Chance gibt, verdanken wir den vielen Aktiven des Energietischs und auch uns, liebe Genossinnen und Genossen. Und natürlich werden wir jetzt nicht einfach die Hände in den Schoß legen, sondern gemeinsam mit dem Energietisch weiter Druck machen, damit diese Chance auch genutzt wird. Die Sache ist längst nicht vom Tisch!

 
Liebe Genossinnen und Genossen,

andererseits ist es auch bitter, dass wir so einen Aufwand betreiben müssen, um etwas so Naheliegendes durchzusetzen. Etwas, das nach eigenem Bekunden eigentlich 4 von 5 im Abgeordnetenhaus vertretene Parteien wollen. Etwas, wofür es also eigentlich eine satte parlamentarische Mehrheit geben müsste.

Der Grund dafür ist, dass die Berliner SPD sich entschieden hat, gemeinsam mit der Berliner Union zu regieren. Das klingt absurd und hat doch Methode. Nicht nur in Berlin, sondern auch im Bund. Denn dort wird ja gerade der gleiche Tanz aufgeführt.

Es ist ja nicht so, dass der SPD der Wille zum Regieren fehlen würde. Davon hat sie mehr, als einem lieb sein kann. Und dafür stellt sie gern auch mal die von ihr selbst propagierten Essentials zur Disposition.

Das Problem bei der SPD ist doch, dass ihr nach wie vor der Willen zu einer anderen Politik fehlt! Dass sie lieber Autobahnen baut, statt in den öffentlichen Personennahverkehr zu investieren. Dass sie lieber Kohlekraftwerke genehmigt, statt konsequent für eine soziale und ökologische Energiewende einzutreten. Dass sie nicht akzeptiert, dass ein Existenzminimum ein Existenzminimum ist, welches nicht per Sanktionen vom Jobcenter noch zusammengekürzt werden kann!

Das sind doch die Probleme, die es so schwer machen, in diesem Land Mehrheiten links von der CDU zustande zu bringen.

Und deshalb sage ich: Es ist ein Fortschritt, wenn die SPD nun endlich kapiert und eingesteht, dass wir uns weder auflösen noch aus den Parlamenten verdrängen lassen. Es ist ein Fortschritt, dass die SPD sich von der Abgrenzung und einseitigen Fixierung auf große Koalitionen löst. Herzlichen Glückwunsch, hat ja auch lange genug gedauert.

Aber ich sage auch: damit allein ist noch nichts geklärt. Nur, wenn die SPD bereit ist, sich auch auf eine andere Politik einzulassen – wenn sie nicht nur nach variablen Mehrheitsbeschaffern schielt, kann aus dieser Option vielleicht mal eine Realität werden.

  
Liebe Genossinnen und Genossen,

bei aller Freude über unser Bundestagswahlergebnis ist mir, wenn ich die Ergebnisse der Wahl in Gänze betrachte, nicht ganz so nach Frohsinn zumute.

Da ist zunächst die CDU, die dank des von ihr vermittelten »Stabilitätspatriotismus« fast die absolute Mehrheit erreicht hätte. Das tut doch weh! Und war nicht nur, weil die dann im Siegestaumel immer so schief singen, gleich ob »Tote Hosen« oder das Deutschlandlied…

Die Botschaft, die ankam, war die der »guten Deutschen«, die unter Merkels Führung »ihre Hausaufgaben erledigt« hätten und jetzt nicht für die vermeintlich schlampigen Südländer zahlen sollten. Diese Message hat nicht nur einen zutiefst rassistischen Kern und bedient Ressentiments sondergleichen.

Und die damit verbundene Politik wird die Spaltung Europas und die der Gesellschaft hier im Land vertiefen, während auch zukünftig die Privilegien der großen Vermögen unangetastet bleiben. Stellen wir jetzt noch in Rechnung, dass FDP und AfD nur knapp an der 5%-Hürde gescheitert sind, ergibt sich durchaus ein gruseliges Gesamtbild.

Wer unter diesem Vorzeichen von einer »strukturellen linken Mehrheit« im Land spricht, hat ganz sicher den Schuss nicht gehört. Und das, obwohl laut Umfragen durchaus breite Mehrheiten für einen Mindestlohn, bessere Renten, ein solidarischeres Gesundheitssystem, eine gerechtere Verteilung von Reichtum und für eine sozial-ökologische Energiewende gibt.

Ganz offenbar ist die Bereitschaft, sich auf solche grundlegenden Veränderungen einzulassen, geringer als die Angst vor Veränderung. Dass die SPD in dieser Frage – trotz viel sozialer Wahlkampfrhetorik – letztlich doch im Windschatten der CDU mitgeschwommen ist, schafft auch nicht unbedingt Vertrauen in umfassendere Veränderungen der Gesellschaft.

Wenn wir also etwas verändern wollen, dann muss es zunächst einmal gelingen, die Angst vor Veränderungen zu bekämpfen. Wir müssen deutlich machen, dass der Mangel an Solidarität in Deutschland und Europa die Krise nicht von uns fernhält, sondern zu ihrer Vertiefung führt. Und dass das einzige Mittel dazu eben nicht weniger, sondern MEHR Solidarität ist.

Dafür, liebe Genossinnen und Genossen, müssen wir werben – gerade im anstehenden Europawahlkampf!

 
Liebe Genossinnen und Genossen,

abzuwarten bleibt, ob SPD und Grüne zu ähnlichen Schlüssen kommen oder ob sie sich eher dem nationalfixierten Diskurs unterordnen.

Aus meiner Sicht ist es nämlich völlig offen, wie die Parteienlandschaft sich in den kommenden vier Jahren sortieren wird. Was wird die Union tun, wenn die FDP nicht aus der Versenkung kommt? Wie wird sich die AfD entwickeln? Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die CDU hier auf machttaktische Konstellationen einlässt.

In Hessen kommt es zum Testlauf zwischen den Grünen und den Erben von Dregger und Koch – wir wissen, wie die drauf sind. Und selbst im Bundestag bändelt der als linker Frontmann eingeführte Fraktionschef Hofreiter mit der Union an, indem er erneute Sondierungen nicht ausschließt – falls es mit der SPD nicht klappen sollte. Nebenbei bemerkt: ein hübscher Tritt in die Kniekehle der einstigen Traumpartnerin SPD… »Knickt besser ein, sonst machen wir das!«

Die SPD wiederum räumt Stück für Stück Positionen ab, die noch vor einem halben Jahr begründen sollten, warum sie – und keinesfalls die Union – in Deutschland die Regierung führen müsse: Reichensteuer, Vermögensabgabe, Erhöhung des Spitzensteuersatzes und vieles andere mehr. Die Krisenpolitik wird wohl weiterhin in den Händen der Kanzlerin liegen – und die verheerende Logik von Schuldenbremse, Sozialabbau und Fiskalpakt wird fortgesetzt werden.

Da kriegen wir alle einen Eindruck, was in den nächsten Jahren gehauen und gestochen ist.

 
Das, liebe Genossinnen und Genossen, zeigt doch nur eines: Die beliebte traditionelle Politarithmetik ist gründlich durcheinandergekommen. Umso wichtiger wird die Frage, welche gesellschaftspolitische Perspektive die größere gesellschaftliche Bindungskraft und Mobilisierung zu erzeugen vermag:

Kommt es zur Koalition der Superreichen mit den verunsicherten oberen Mittelschichten mit Solardach, die bei der Berechnung des Hartz IV-Satzes nicht nur Zigaretten und Bier, sondern auch die Würstchen streicht? Oder kriegen wir es hin, eine gesellschaftliche Solidarisierung zu erzeugen – mit Empathie für Solidarität! –, damit die Pfründe und Privilegien der Superreichen und Konzerne endlich zum Thema werden?

 
Liebe Genossinnen und Genossen,

wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass in den vergangenen 4 Jahren Schritte hin zu einem alternativen politischen Bündnis kaum gelungen sind. Nach wie vor gibt es tiefgehende Differenzen zur Zukunft der solidarischen Sicherungssysteme, des europäischen Wirtschafts- und Sozialraums, zur Bildungspolitik, zur sozialökologischen Energiewende, zur Außen- und Sicherheitspolitik.

Es gibt zwar größere programmatische Schnittmengen, aber in der Summe reicht das hinten und vorne nicht für einen Politikwechsel im Bund. Und das, obwohl SPD, Grüne und LINKE gemeinsam die Oppositionsbank gedrückt haben.

Bisher war es für uns immer recht komfortabel, auf die »Ausschließeritis« der SPD zu verweisen und zu sagen: »An uns soll ein Politikwechsel nicht scheitern! Aber die wollen ja nicht mit uns!« Das haben aber SPD und Grüne jetzt begriffen! Und sie werden – das ist die Kehrseite des Einzugs demokratischer Normalität – diesen Fehler nicht noch einmal wiederholen. Das bedeutet aber, dass auch wir jetzt inhaltlich stärker unter Druck und Rechtfertigung geraten werden, wenn es um die Frage von Konstellationen jenseits der Union geht.

Es wird mehr nicht reichen zu sagen: Wenn SPD und Grüne bereit sind, mit uns unser Programm eins zu eins umzusetzen, stehen wir einer Regierungsbeteiligung nicht im Wege…

Wenn wir selbst glauben, es habe nur an der Ausschließeritis der SPD gelegen, an der Arroganz der Grünen, an den Medien etc., dass der Politikwechsel nicht stattgefunden hat, betreiben wir Selbstbetrug. Wir müssen auch über unsere eigenen Defizite reden.

Es ist ja kein Geheimnis, wie sehr uns noch im vergangenen Jahr die innerparteilichen Auseinandersetzungen gelähmt haben. Bekanntlich war das Problem nicht, dass es in der einen oder anderen Frage unterschiedliche Auffassungen gegeben hätte. Es war der Stil der Auseinandersetzung, der uns fertiggemacht hat. Diesen Stil, den können, den dürfen wir uns nie wieder leisten, liebe Genossinnen und Genossen.

Mit ist es völlig egal, in welcher Strömung sich Mitglieder unserer Partei engagieren. Für mich ist entscheidend, ob es uns gelingt, die unterschiedlichen Sichten für eine Schärfung unseres Profils und für realitätstauglichere Antworten nutzbar zu machen.

Ich weiß ja nicht, wie es euch gegangen ist: Im Wahlkampf waren meine Argumente gegen einen Militäreinsatz in Syrien überzeugender, wenn ich durchdeklinieren konnte, warum mit einer Intervention keineswegs mehr Frieden, Gerechtigkeit und Humanität einzieht – als wenn ich mich einfach auf die quasi pazifistische Ablehnung von Militär an sich zurückgezogen hätte, oder eben: ich bin dagegen, weil das seit Erfurt so in unserem Parteiprogramm steht.

Gleiches gilt für die Institutionen der EU, die weder einfach bürokratisches Monster noch in Stein gemeißelte neoliberale Ideologie sind – aber eben auch keine demokratische Veranstaltung, die nach Lösungen im Interesse der großen Mehrheit der Menschen in Europa sucht. Da wird es dann konkret und irdisch.

Wir sollten alle daran interessiert sein, spannendere inhaltliche Diskussionen miteinander zu führen. Da will ich nicht mehr hören, dass jemand ein »Sektierer« oder eben ein »Kriegstreiber« sei, weil Fragen aufgeworfen werden, die – wenn es hart auf hart kommt – ohnehin das Leben an uns stellt. Wir können in manchen Fragen unterschiedlicher Auffassung sein, aber wir müssen die Diskussionen mit dem gebotenen persönlichen Respekt voreinander führen.

 
Liebe Genossinnen und Genossen,

so wie wir die Debatte über Lösungen, Konzepte und Umsetzungsschritte in unserer Partei zulassen müssen, müssen wir sie auch mit der politischen Konkurrenz aushalten.

Der Vorwurf »Sozialverräter« gegenüber den Sozis ist schnell bei der Hand, aber er ersetzt nicht die Auseinandersetzung in der Sache. Wir müssen auch nicht jede Chance nutzen, einfach nur, um die SPD vorzuführen.

Gleiches gilt umgekehrt: SPD-Chef Gabriel hat wenig Grund, sich als Oberlehrer aufzuspielen. Wer sich nicht durchringen kann, sich beispielsweise von Sarrazin zu trennen, sollte sich mit dem Erteilen von Zensuren gegenüber anderen zurückhalten. Ich kenne keine LINKEN-Abgeordneten, die »irre« sind, und unsere Differenzen klären wir auch ohne sozialdemokratische Hinweise, wer bei uns ein braver Schüler ist und wer in die Ecke gestellt gehört. Das gilt gleichermaßen für die Grünen. Das bringt uns alles nicht weiter.

Da kann Jan Stöß noch so oft mit R2G liebäugeln, das ist dann auch eher Selbstinszenierung und Marketing: Substanzlosigkeit und Realitätsferne sind hier in Berlin aktuell eher ein Markenzeichen der SPD-CDU-Koalition. Viele eigene Ideen kenne ich da nicht – eher Beton und Spiele. Und die mutlose Klassenstrebermentalität des Finanzsenators, die das Erreichen einer schwarzen Haushaltsnull als Wert an sich feiert, ist nun wirklich kein Ausweis intellektueller Kreativität. Oder, wie frisch im Straßenbild, eine Werbung des Senats: »Minijob. Mach mehr draus.« Eine soziale und nachhaltige Strategie für Berlin sieht anders aus – ambitionierte alternative Politik auch. So wird das nichts.

 
Liebe Genossinnen und Genossen,

die Diskussion über ein »linkes Lager« und eine mögliche Mitte-Links-Koalition im Bund wird uns noch eine Weile beschäftigten. Schon, weil CDU und CSU das als Horrorvision für eine verängstigte Kleinbürgerschaft brauchen.

Ehrlich gesagt: ich habe meine Zweifel, ob es dieses »linke Lager« wirklich gibt. Und auch daran, ob es eine reelle Chance gibt, dass daraus mal mehr wird. Ich halte das für eine offene Frage – und deshalb meine ich, dass wir die Diskussion darum genauso führen sollten. Weder kann es darum gehen, besinnungslos in eine solche Konstellation hineinzurennen, noch darum, aus Angst vor dem Verlust der Unschuld möglichst unüberwindbare Mauern zu errichten.

Die Nagelprobe kann unsere Partei schon im nächsten Jahr wieder ereilen: bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, wo wir mithelfen müssen, ein möglichst gutes Ergebnis einzufahren. Oder auch in Brandenburg, wo letztlich darüber entschieden wird, ob die rot-rote Koalition weiterarbeiten wird oder eben die Schwarzen wieder ans Ruder kommen. Und auch in Berlin wird sich 2016 diese Frage wieder stellen – ein Jahr vor der Bundestagswahl.

Und so sehr ich der Berliner SPD gönnen würde, mal ein paar Jahre vom Zugriff auf die Verwaltungen und Haushaltstöpfe abgeschnitten zu sein – wir können uns ja die Kräfteverhältnisse auch in Berlin nicht zurechtwünschen, sondern müssen sie nehmen, wie sie sind. Die politischen Veränderungen der Vergangenheit – auf der Ebene des Bundes – sind immer, wirklich immer, durch Bündnisse auf Ebene der Länder vorbereitet worden.

Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Ich plädiere nicht dafür, eine Situation ernsthafter Bündnisgespräche gründlich vorzubereiten, weil eine Koalition unter Einschluss der LINKEN mein sehnlichster Wunsch ist. Sondern ich sage: wir müssen um unserer selbst Willen so gut wie möglich vorbereitet sein!

Zum einen, weil das, was wir gegenwärtig bei den Koalitionsverhandlungen im Bund erleben, auch für die nächsten vier Jahre Mehltau über jedes Pflänzchen progressiver Veränderung hier und in Europa legen kann.

Zum anderen, weil wir doch Erfahrungen haben! Vielleicht wäre uns mancher Fehler erspart geblieben, wenn wir auf eine Situation wie in Berlin 2001 besser vorbereitet gewesen wären. Aber wir hatten weder einen Plan, wie wir mit dem Desaster fertig werden könnten, das uns die schwarz-rote Koalition hinterlassen hatte – noch gab es hierüber eine breitere öffentliche Debatte. Was es gab, war eine riesige Erwartungshaltung und – auch bei uns – jede Menge Illusionen darüber, was in einer solchen Koalition möglich ist, und was nicht.

Deshalb sage ich: Wir brauchen eine nachvollziehbare öffentliche Auseinandersetzung darüber, was in einer solchen Konstellation gehen könnte und was nicht. Und zwar nicht abstrakt – oder indem wir über schlechte Absichten und guten Willen diskutieren –, sondern entlang konkreter politischer Inhalte.

Das ist die wichtigste Voraussetzung, um politische Eigenständigkeit nicht nur zu behaupten, sondern tatsächlich zu bewahren! Nur so bestehen wir, nur so können wir entlang öffentlich nachvollziehbarer Kriterien selbstbewusst JA oder eben auch NEIN sagen.

Und da werden wir abzuwägen haben. Was machen wir denn, wenn wir ein gerechteres Steuersystem durchsetzen könnten, auch eine sanktionsfreie Mindestsicherung in der von uns geforderten Höhe. Aber vielleicht keinen NATO-Austritt, und nur deutliche Restriktionen für Waffenexporte, aber etwa keine Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen mehr? Was machen wir dann? Wie entscheiden wir uns? Das müssen wir doch so oder so rational und nachvollziehbar begründen können!

Deshalb ist es mir so wichtig, dass wir eigene Ideen und Vorstellungen entwickeln, die nicht nur in den Augen geneigter, uns wohlwollend gesinnter Menschen, sondern auch vor dem kritischen Blick einer breiteren Öffentlichkeit bestehen können. Das bedeutet nicht, dass wir den anderen nach dem Munde reden oder uns irgendeinem Mainstream anpassen sollten.

Das wäre auch unser Ende, denn dafür braucht niemand eine LINKE. Aber wir müssen in der Lage sein, schlüssig nachzuweisen, dass die Ablehnung unserer Vorschläge durch SPD und Grüne nicht sachlichen Gründen folgt oder ihrer mangelnden Finanzierbarkeit – sondern weil es am politischen Willen der anderen Seite mangelt.

 
Liebe Genossinnen und Genossen,

für mich ist völlig klar: Wir müssen uns mit einem Mainstream anlegen,

  • der die Interessen des Kapitals und der Milliardäre für sakrosankt erklärt,
  • der Lohnverzicht und Sozialabbau für die vernünftige Antwort auf entfesselte Finanzmärkte hält,
  • der Hartz IV und Agenda 2010 als heilende Medizin auch den anderen europäischen Staaten zwangsverordnen will,
  • der meint, Kriege und Terror mit Bomben und Drohnen beenden zu können,
  • der Totalüberwachung aller Menschen für das Nonplusultra moderner Sicherheitspolitik hält,
  • der den Weg in diktaturähnliche Verhältnisse als »Marktkonforme Demokratie« bemäntelt.

Aber wir müssen darum kämpfen, diesen Mainstream zu verändern – und das geht nur, indem wir uns einmischen, statt uns mit Selbstvergewisserung zufriedenzugeben!

 
Klar ist auch: Für progressive gesellschaftliche Veränderungen lässt sich auch mit noch so schönen, durchgerechneten Konzepten kein Blumentopf gewinnen, wenn es dafür keine breite, gesellschaftliche Unterstützung gibt. Und da schaue ich dann mal rüber zu unseren Freundinnen und Freunden von den Gewerkschaften – und ich freue mich auf Besuch von den Mieterinitiativen nachher ab Mittag. Ich teile ausdrücklich die Position von Gregor Gysi, dass der gesellschaftlichen Selbstermächtigung und auch den Gewerkschaften in einem Prozess des Politikwechsels eine Schlüsselrolle zukommt. Diese Aufgabe ist zu groß und zu wichtig, um sie uns allein zu überlassen!

 
Gestern habe ich von Hasko Hüning aus Steglitz-Zehlendorf einen Text zur Wahlauswertung bekommen. Hasko schreibt darin:

»Die Zeiten für eine linke Reformalternative qua einfacher additiver Bündnispolitik verschiedener Parteien und Strömungen (rot+rot+grün) scheinen vorbei. (…) Egal, ob es zu einer großen Koalition kommt oder nicht, die LINKE ist zwar im Parlament zahlenmäßig nicht stärker, aber einflussreicher geworden. (…) Damit ist aber auch andererseits klar: ohne die Weiterentwicklung einer politischen Alternative – inhaltlich wie organisatorisch –, die zu einer breiter akzeptierten Wiederherstellung sozialer Gerechtigkeit und zu ihrem Ausbau führt, kann die Linkspartei auch wieder an gesellschaftlicher Resonanz einbüßen. (…) Eine selbstbewusste Linke wird somit auch ihre Kompetenzen für Wirtschaft und Arbeit profilieren (müssen), um einen Politikwechsel für eine gesellschaftliche Transformation einsichtig und unabweisbar zu machen.«

 
Liebe Genossinnen und Genossen,

ich glaube, Hasko hat damit völlig Recht: Es liegt an uns, durch unsere eigene inhaltliche Stärke das gesellschaftliche Kräfteparallelogramm wieder etwas stärker nach links zu verschieben, den Mainstream zu verändern! Und das ist leichter gesagt als getan.

Als wir uns vor zwei Jahren mit unserem Abschneiden bei der Abgeordnetenhauswahl auseinandersetzen mussten, glaubte niemand, dass wir so schnell wieder auf die Beine kommen. Das sollte uns Mut machen und Optimismus vermitteln. Wie ich eingangs schon sagte: Wir haben in diesem Jahr in Berlin mehr hinbekommen, als wir uns anfangs selbst zugetraut haben. Das ist uns auch gelungen, weil wir uns ziemlich kritisch und hart mit unseren eigenen Versäumnissen und Defiziten auseinandergesetzt haben. Das werden wir auch weiter tun müssen.

Viele Dinge haben wir in Bewegung gesetzt. Nicht alle funktionieren schon so, wie es sein sollte. Manches haben wir auch noch gar nicht richtig begonnen. Aber wir haben uns gemeinsam auf diesen Weg gemacht.

Gehen wir ihn jetzt zielstrebig weiter, liebe Genossinnen und Genossen, zeigen wir, dass wir es drauf haben!