Gemeinsame Erklärung: Bürgergeld - notwendige Änderungen, aber nicht weitgehend genug

Landesvorstand

In einem gemeinsamen Papier nehmen die Parteivorsitzenden der Partei DIE LINKE, Janine Wissler und Martin Schirdewan zusammen mit den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion und Landespolitiker*innen mit linker Regierungsbeteiligung zum geplanten Bürgergeld und der Blockadehaltung der CDU Stellung:

 

Das von den Regierungsfraktionen im Deutschen Bundestag beschlossene Bürgergeld ist keine Überwindung von Harz-IV. Nötig sind aus Sicht der Partei DIE LINKE., der Linksfraktion im Deutschen Bundestag sowie den linken Regierungsvertreter:innen in Berlin, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen weitergehende Schritte.

CDU und CSU hingegen wollen – obwohl mit dem Bürgergeld im Wesentlichen diejenigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nachvollzogen werden, mit denen Exzesse des Hartz-IV-Systems abgemildert werden – selbst diese Verbesserungen nicht mittragen. Das  Ziel von CDU und CSU besteht darin, über eine parteipolitisch motivierte Blockade im Bundesrat, das Bürgergeldgesetz im Vermittlungsausschuss zu schleifen.  

Wir haben durch die Linksfraktion im Deutschen Bundestag deutlich gemacht, dass viel entschlossenere Schritte notwendig sind, um allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen und um Teilhabe am Erwerbsleben zu befördern.

Im Bundesrat werden sich die linksregierten Länder deshalb – trotz unserer bestehenden Kritik am Gesetz – nicht an dem rückwärtsgewandten Blockadeversuch des Bürgergeldgesetzes durch die unionsgeführten Länder beteiligen. 

Denn die vorgetragenen Positionen und das dahinterstehende Menschenbild der Unionsparteien sind nicht unsere. Wir wollen die Überwindung von Hartz-IV, die Unionsparteien eine Rolle rückwärts.

In der Debatte im Deutschen Bundestag zur Einführung des Bürgergeldes warf der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Hermann Gröhe, der Regierungskoalition unter anderem vor, „jede sachliche Debatte über die Webfehler des Gesetzes“ zu verweigern. Unser linker Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow hat darauf zutreffend geantwortet: Es geht der Union nicht um sachliche Lösungen, sondern um parteipolitisches Ego. Weil sich die CDU/CSU als Opposition im Deutschen Bundestag nicht durchsetzen konnte, sollen nun alle Bezieherinnen und Bezieher des Bürgergeldes in Geiselhaft genommen werden. 

Das öffentlich von den Unionsparteien gezeichnete Bild „arbeitsscheuer“ Personen, die über ein hohes Vermögen verfügen und sich samt Familie im Bürgergeldbezug ausruhen, ignoriert auf zynische Weise die Realität. Es trägt zur gesellschaftlichen Spaltung bei und grenzt diejenigen Menschen aus, die ohnehin bereits an vielen Stellen gesellschaftlich ausgeschlossen sind. 

Die Behauptungen der Union halten einer sachlichen Betrachtung nicht statt. Sie ignorieren vollständig die bittere Realität hunderttausender Menschen in unserem Land, die in schlecht bezahlten Tätigkeiten aufstocken. Ausgeblendet wird zusätzlich, dass es gerade die Unionsparteien waren, die über lange Jahre durch Niedriglohnstrategien und die Untergrabung des Tariflohnsystems zu Armut in Deutschland beigetragen haben. CDU und CSU haben sich stets dem Mindestlohn und dessen Erhöhung verweigert – DIE LINKE. hingegen hat den Mindestlohn gegen erhebliche Widerstände in die politische Debatte getragen und so den Weg zu seiner Einführung geebnet. 

Darüber hinaus sind die Unionsparteien in ihrer Argumentation  nicht konsistent. Besonders in die Unionskritik geraten sind die Karenzzeitregelungen für Wohnen und angemessenes Erspartes. Diese dürften laut CDU/CSU allenfalls bestimmten Personengruppen „mit einer messbaren Lebensleistung“ zukommen. Weiterhin werden die geplante sechsmonatige Vertrauenszeit sowie der unverbindliche Kooperationsplan, mitsamt dem zugehörigen Schlichtungsmechanismus abgelehnt. Der von den Unionsparteien vorgenommene Angriff auf das Schonvermögen spricht jeder Argumentation Hohn, mit der CDU und CSU sonst die private Vorsorge gegen vermeintliche Staatseingriffe verteidigen. Das durch harte und eigene Arbeit aufgebaute Vermögen - in der Regel die Altersvorsorge derjenigen, die in den Leistungsbezug des Bürgergelds kommen – in Frage zu stellen, ist eine Enteignung von oben nach unten. Das lehnen wir als DIE LINKE. ab. 

Das von CDU und CSU geprägte Menschenbild aus Kontrolle, Gängelung und dem Kleinhalten der Schwächsten durch Sanktionen lehnen wir ebenso ab wie die gefährliche Stimmungsmache gegen benachteiligte Personengruppen, die Ressentiments schürt, ausgrenzt und Spaltungslinien in der Gesellschaft vertieft. 

Sollte das Bürgergeldgesetz am Montag, dem 14. November 2022 im Bundesrat aufgrund der Blockade von CDU und CSU die Mehrheit verfehlen, wird der Vermittlungsausschuss angerufen werden. 

Als Linksfraktion im Deutschen Bundestag und DIE LINKE. in den linksregierten Ländern werden wir uns im Vermittlungsausschussverfahren gegen Verschlechterungen des Bürgergeldgesetzes durch CDU und CSU stemmen. Wir werden folgende Forderungen in die Beratungen des Vermittlungsausschusses einbringen:

 

1.) Regelbedarfsermittlung

Mit dem vorliegenden Gesetz werden die grundsätzlichen Probleme bei der Regelbedarfsermittlung nicht angegangen, geschweige denn gelöst. Zwar wird mit Blick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 23. Juli 2014 eine Änderung der Fortschreibung der Regelbedarfe vorgenommen, indem künftig in einem zweistufigen Verfahren zusätzlich zur schon bisher durchgeführten Basisfortschreibung schneller auf die Veränderung der regelbedarfsrelevanten Preisentwicklung reagiert werden soll. Die Berechnung des Hartz-IV-Regelsatzes wird jedoch nicht korrigiert, so dass dieser nach wie vor nicht vor Armut schützt. Die aktuell vorgesehene Anhebung um 53 Euro ist zwar zu begrüßen, ist aber kaum mehr als ein Inflationsausgleich. Die Regelsätze sind und bleiben deutlich zu niedrig bemessen. Um ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, sind diese nachvollziehbar, bedarfsgerecht und auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu ermitteln und dürfen nicht weiterhin künstlich kleingehalten werden. Entsprechende Vorschläge und Hinweise zu einer bedarfsgerechten Neuermittlung sowie zu einer Ausgleichszahlung als Zwischenschritt wurden von den Sozial- und Wohlfahrtsverbänden vorgelegt. 

 

2.) Sanktionsregelungen

Mit dem Bürgergeldgesetz wird auf Sanktionen, also Leistungskürzungen unter das Existenzminimum, nicht verzichtet. Diese sind nach wie vor intendiert und sehen vor, dass die Jobcenter in bestimmten Fällen bis zu 30 Prozent des Regelsatzes einbehalten können. Häufig wird argumentiert, dass man Sanktionen als Druckmittel und Konsequenz bräuchte, um das gewünschte Wohlverhalten zu erzeugen. Auch wäre das im Sinne der Gerechtigkeit gegenüber Personen, die sich an Vorgaben und Regeln halten würden. Eine solche Einschätzung blendet aus, dass es ein dem Grunde nach unverfügbares Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gibt, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 9. Februar 2010 ausgeführt hat. Demnach sind jeder und jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zuzusichern, die für die physische Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Sanktionen widersprechen dem, und nicht zuletzt belegen Studien und Erkenntnisse aus der Praxis ihre vor allem langfristigen negativen Wirkungen auf die soziale Stabilisierung und Teilhabe. 

 

3.) Angemessenheitsgrenzen bei Heizkosten nach Verbrauch, nicht nach Preis

Die Heizkosten werden im Rahmen der Angemessenheitsgrenzen übernommen. Nun schreiben die Kommunen die Werte regelmäßig fort und orientieren sich an den Steigerungen der Vergangenheit. In Zeiten explodierender Heizkosten ist dieser Mechanismus nicht ausreichend. Es braucht einen Paradigmenwechsel: Die Angemessenheit bei Heizkosten geht nach Verbrauch und nicht nach Preis. Im Ergebnis heißt das, wer bereits im Leistungsbezug ist, bekommt auch deutlich höhere Heizkosten erstattet, wenn der Verbrauch nicht gestiegen ist (oder im Einzelfall begründet, z.B. wenn jemand entsprechende gesundheitliche Einschränkungen hat oder die Wohnung in einem baulichen Zustand ist, der einen höheren Verbrauch begründet). Bei neuen Anträgen gibt es eine Orientierung an Verbrauchstabellen. Dies müsste bundesweit zum Standard erhoben werden.

 

4.) Übernahme von Stromkosten als Teil der Wohnkosten

Es muss die vollständige Übernahme der bisher pauschal in den Regelsätzen berücksichtigten Energieausgaben erfolgen, nicht zuletzt aus dem Grund, dass diese individuell unterschiedlich sind. Auch Heizkosten werden direkt übernommen im Rahmen der Angemessenheit und müssen nicht aus dem Regelbedarf gezahlt werden. Entsprechend müssen auch Stromkosten gerade angesichts der aktuellen Preisentwicklungen direkt übernommen werden.

 

5.) Wiedereinführung der Finanzierung einmaliger Leistungen für sog. „weiße Ware“

Die Theorie von Hartz IV besagt, dass Leistungsbeziehende monatlich aus ihrem Regelsatz eine gewisse Summe zurücklegen sollen, für den Fall, beispielsweise Waschmaschine oder Kühlschrank kaputt geht und ersetzt werden müssen. Das funktioniert in der Praxis kaum, da die Regelsätze ohnehin zu knapp bemessen sind und mit Blick auf die Erforderlichkeiten des täglichen Lebens – Ernährung u.a. – auch keine Spielräume zum Ansparen bestehen. Die Betroffenen müssen also beim Jobcenter Darlehen aufnehmen und sich damit verschulden. Um dann möglichst preiswert zu einem Ersatz zu kommen, werden auch häufig ältere und stromfressende Modelle erworben. Am Ende ist das eine teure und auch nicht nachhaltige Lösung, weil so höhere Stromkosten anfallen und ggfs. auch schneller wieder ein neuer Ersatz erforderlich ist.

Deshalb fordern verschiedene Sozialverbände seit längerem, dass die Kosten für „weiße Ware“ wie Kühlschränke oder Waschmaschine nicht von ohnehin zu niedrigen Regelsatz abgespart werden müssen. Zielführender ist eine Kostenübernahme im Bedarfsfall, und zwar in dem Maße, dass der Erwerb eines stromsparenden, langlebigeren Modells möglich ist. Auf diesem Wege wäre es vor allem auch möglich, den Energieverbrauch einer Vielzahl von Haushalten mit geringem Einkommen sowohl anders zu finanzieren als auch nachhaltig zu senken.

            

6.) Übernahme von Schulden auch als Beihilfe

Wenn Sozialleistungsbeziehende Schulden haben, z.B. Energieschulden wegen zu hoher Stromrechnung, übernehmen die Jobcenter diese nur in Form eines Darlehens. Die Betroffenen können so in eine Schuldenspirale gelangen, die eine hohe Hürde darstellt, auch beim Wiedereintritt in Erwerbsarbeit. Berichte aus den Schuldnerberatungsstellen belegen, was das Gefühl aus Rückzahlungsforderungen nicht herauszukommen, mental mit Menschen macht.

Deshalb fordern Sozialverbände und DIE LINKE. seit langem, dass im Gesetz zumindest die Option eingeräumt wird, Energieschulden auch als Beihilfe zu übernehmen. Im SGB XII (Sozialhilfe) gibt es diese Option, bei SGB II nicht.

 

7.) Ausbau und Stärkung des sozialen Arbeitsmarktes bzw. der Jobcenter

Ziel der ehemaligen Großen Koalition war es, 150.000 langzeitarbeitslosen Menschen mittels einer geförderten Arbeit mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Das zum 1. Januar 2018 eingeführte Förderinstrument, die „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ nach § 16i Sozialgesetzbuch II, mit dem sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen für Langzeitarbeitslose befristet unterstützt werden, stagniert seit 2020 bei rund 40.000 Stellen. Angesichts einer weiterhin hohen Zahl von Menschen im Langzeitleistungsbezug muss das Instrument weiterentwickelt und ausgebaut werden. Um das zu erreichen, sind auch ausreichende Haushaltsmittel für ein Mehr an geförderten Arbeitsplätzen vorzusehen. Gleichzeitig müsste eine Übertragbarkeit eine Übertragbarkeit von Mitteln für die „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ nach § 16i SGB II auf andere Förderinstrumente oder Haushaltstitel ausgeschlossen werden. Im aktuellen Haushaltsentwurf für 2023 wurden die Mittel für die den Eingliederungstitel abgesenkt und für den Verwaltungskostenhaushalt nicht angehoben. Damit stehen den Jobcentern weniger Möglichkeiten zur Verfügung, um benachteiligten Gruppen wie Langzeitarbeitslosen und Menschen mit Behinderungen den Weg in Ausbildung und Arbeitsmarkt zu ebnen. Zudem ist zu erwarten, dass die Jobcenter wegen steigender Verwaltungsausgaben wieder vermehrt gezwungen sein werden, Umschichtungen aus dem Eingliederungstitel in den Verwaltungskostenhaushalt vorzunehmen. Kommt es hier zu keinen Veränderungen, wird der Handlungsspielraum der Jobcenter in Bezug auf eine erfolgreiche Integration von langzeitarbeitslosen Personen deutlich verringert, was auch den grundsätzlichen Intentionen des Bürgergeldgesetzes zuwider läuft. 

 

 

Unterzeichner*innen:

Janine Wissler, MdB / Martin Schirdewan, MdEP (Parteivorsitzende DIE LINKE.)

Amira Mohamed Ali, MdB / Dietmar Bartsch, MdB (Vorsitzende Linksfraktion im Deutschen Bundestag)

Katja Kipping, Senatorin für Arbeit, Integration und Soziales / Klaus Lederer, Bürgermeister und Senator für Kultur und Europa (Berlin)

Kristina Vogt, Senatorin für Wirtschaft und Arbeit (Bremen)

Simone Oldenburg, Vize-Ministerpräsidentin und Ministerin für Schule und frühkindliche Bildung (Mecklenburg-Vorpommern)

Bodo Ramelow, Ministerpräsident / Heike Werner, Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie (Thüringen)

 

 

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