Zur konsequenten, offenen und öffentlichen Auseinandersetzung der Berliner PDS mit dem Problem MfS

PDS-Landesparteitag Berlin

Beschluss der 3. Tagung des 1. Berliner Landesparteitages der PDS


Die neuerliche Krise um die inoffizielle Mitarbeit von Mandatsträgern des Berliner Landesverbandes beim ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit verdeutlicht, dass die PDS, inklusive des Berliner Verbandes, sich bis heute völlig unzureichend mit diesem Themenkomplex auseinandergesetzt hat. Wieder einmal holt uns die Geschichte ein, und wir geraten in die Defensive, können nur noch reagieren, statt politisch zu agieren.

Wir stehen wieder und noch immer vor der Wahl, endlich die kritische Auseinandersetzung mit unserer Geschichte in Angriff zu nehmen oder weiter an Glaubwürdigkeit und damit an einer wesentlichen Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit zu verlieren. Angesichts dieser Situation beschließt der Landesparteitag folgende Grundsätze und Maßnahmen für die Entwicklung der Auseinandersetzung auf diesem Problem- und Politikfeld:
 

I. Grundsätze:

  1. Die Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ist als Moment einer komplexen Staats- und Sicherheitskonzeption zu begreifen. Das MfS war nur ein, wenn auch ein zentrales Instrument der Verwirklichung dieser Konzeption. Diesem lagen ideologische Überzeugungen, eine Klassenkampf- und Revolutionstheorie und eine Staats- und Rechtsauffassung zu Grunde, für deren Durchsetzung die SED wirkte. Ihre Realisierung war notwendig verbunden mit Verletzungen grundlegender Menschen- und Bürgerrechte, mir der immanenten Missachtung der Souveränität und Integrität des einzelnen Bürgers. Die SED hatte die politische Verantwortung für die Tätigkeit der Sicherheitsorgane in der DDR. Deshalb steht heute die PDS, die ihre Nachfolgeexistenz gerade mit dem Willen, sich der geschichtlichen Verantwortung zu stellen, begründete, in einer besonderen Pflicht für die Aufarbeitung dieser Seite der DDR- und SED-Geschichte.
     
  2. Wir treten für eine differenzierende Auseinandersetzung mit der DDR-Gesellschaft ein. Deshalb lehnen wir es ab, die offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter des ehemaligen MfS zu Sündenböcken des Niedergangs dieser Gesellschaft zu machen. Für sie gilt, wie für jeden anderen Bürger, dass jeder ein Recht darauf hat, nach seiner individuellen Verantwortung und Schuld beurteilt zu werden. Einer pauschalisierenden Vorverurteilung treten wir entschieden entgegen. Die Art und Weise des Umgangs mit dem »Erbe« des MfS und seinen Mitarbeitern wird zu einem Prüfstein für die demokratische Gesittung des neuen Deutschlands.
     
  3. Wir fördern und initiieren demokratischen Widerstand gegen alle Formen der pauschalen sozialen Ausgrenzung von offiziellen oder inoffiziellen Mitarbeitern des ehemaligen MfS durch generalisierende Ausschüsse von beruflichen Laufbahnen – gerade weil wir die diesbezüglichen Praktiken des MfS in der DDR verurteilen. Der Grad der persönlichen Verstrickung in Unterdrückung und Unrecht müssen in jedem Einzelfall ausschlaggebend sein.
     
  4. Wie einer Pauschalverurteilung der Mitarbeiter des MfS treten wir allen Formen der pauschalen Entschuldigung und »Solidarisierung« entgegen. Wagenburg-Mentalität und Schulterschluss-Gesten sind letztlich das Gegenstück zur pauschalen Verurteilung und Dämonisierung, sind die andere Seite derselben Medaille, die Verdrängung heißt. Verdrängung von Unrecht und Verantwortung vergiftet die Demokratie und tötet den Sinn für Gerechtigkeit und Zivilcourage in der Gesellschaft. Für uns ist die Forderung nach der Einzelfallprüfung eben nicht Blockade der Auseinandersetzung, sondern sie bedeutet wirklich PRÜFUNG mit jeweils konkretem Ausgang.
     
  5. Alle offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter des MfS, die bereit sind, sich mit ihrer persönlichen Verantwortung auseinanderzusetzen und sich ehrlich und solidarisch gegenüber der PDS verhalten, haben Anspruch auf unsere Solidarität und unsere Hilfe. Dies schließt Kritik sowie die Verurteilung gesetzwidriger, menschenverachtender Praktiken des MfS und einzelner seiner Mitarbeiter ein.
     

II. MfS-MitarbeiterInnen in der PDS:

  1. Mitglieder der PDS, die als offizielle oder inoffizielle Mitarbeiter für das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet haben, sind keine Mitglieder »zweiter Klasse«. Jede pauschalisierende Einschränkung ihrer Rechte und Pflichten wäre statutenwidrig und widerspräche politischen Grundanforderungen der PDS. Auch in dieser Hinsicht muss die Partei ihre Forderungen leben.
     
  2. Eine allgemeine Pflicht zur Offenlegung einer früheren Tätigkeit für das MfS gibt es für die Mitglieder innerhalb der PDS nicht. Jede Genossin und jeder Genosse ist aufgefordert, sich kritisch gerade mit dieser Seite der Vergangenheit der Partei und seiner eigenen Biographie auseinanderzusetzen. Aber dieses ist eine Sache einer/s jeden Einzelnen. Die persönliche Integrität der Parteimitglieder ist eine schützenswerte Errungenschaft unseres neuen Parteiverständnisses. Nur für GenossInnen, die sich anschicken, für die Partei in exponierter Stellung öffentlich zu wirken, ist die persönliche Biographie in dieser Frage keine Privatsache mehr. Diese GenossInnen müssen den unterschiedlichen Anforderungen der jeweiligen Öffentlichkeit gerecht werden können.
     
    a) MandatsträgerInnen:
     
  3. Mitglieder der PDS, die als offizielle oder inoffizielle MitarbeiterInnen für das ehemalige MfS tätig waren und sich um ein Mandat der Partei für eine Wahl zu einer Volksvertretung bewerben, haben die Pflicht, ihre Tätigkeit für das MfS offen zu legen, um eine Einzelfallprüfung zu ermöglichen. Die nominierenden Gremien entscheiden auf diese Weise selbstbestimmt über eine solche Kandidatur, und die WählerInnen werden in die Lage versetzt, eine souveräne Entscheidung zu treffen.
  4. MandatsträgerInnen, die sich in dieser Frage gegenüber ihren Genossen als unehrlich und unsolidarisch erweisen, werden aufgefordert, ihr Mandat niederzulegen. Kommen sie einer solchen Aufforderung nicht nach, wird empfohlen, sie aus der Fraktion auszuschließen.
     
    Übergangsregelung:
     
  5. Mitglieder, die gegenwärtig MandatsträgerInnen für die PDS sind und offizielle oder inoffizielle MitarbeiterInnen des MfS waren, dies aber bisher nicht offen gelegt haben, werden hiermit aufgefordert, dies bis spätestens 31.08.1991 nachzuholen und zwar vor der PDS-Fraktion des Gremiums, in das sie gewählt worden sind.
    Diesen Gremien obliegt im Zusammenwirken mit den jeweiligen Vorständen die Einzelfallprüfung, die mit einer Empfehlung für den Betroffenen zu verbinden ist. Gemeinsam ist die Art und Weise Der Öffentlichmachung der Tatsachen wie der Empfehlung zu regeln.
     
  6. Die PDS-Mitglieder der Fraktionen in den Berliner parlamentarischen Volksvertretungen erklären ihre Bereitschaft zur individuellen Überprüfung. Die Fraktionen stellen unverzüglich eigenständig bei der »Gauck-Behörde« einen Antrag auf Überprüfung.
     
  7. Abgeordnete, die glauben, sich einer solchen Überprüfung aus persönlichen Motiven und in Verantwortung für andere nicht unterziehen zu können, woird die Niederlegung des Mandats empfohlen. Bezüglich MandatsträgerInnen, die sich in dieser Frage als unehrlich erweisen, gelten die Regelungen des 3. Punktes.
     
    b) Funktionen in der Partei:
     
  8. GenossInnen, die sich um Wahlfunktionen bewerben und somit in einer Funktion die Partei in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit repräsentieren, haben gegenüber den Delegierten- bzw. Mitgliederversammlungen, in denen sie sich zur Wahl stellen, eine eventuelle offizielle oder inoffizielle Mitarbeit beim MfS als Grundlage für eine Einzelfallprüfung offen zulegen.
     
  9. Sollten sich GenossInnen in dieser Hinsicht als unehrlich gegenüber der Partei erweisen, so entbinden die jeweiligen Vorstände bzw. Gremien sie von ihrer Funktion und legen diesen Tatbestand gegenüber den sie wählenden Delegiertenkonferenzen oder Mitgliederversammlungen offen, so dass diese über eine eventuelle Abwahl des entsprechenden Genossen entscheiden können.
     
    Übergangsregelungen:
     
  10. GenossInnen in Wahlfunktionen der PDS, die offiziell oder inoffiziell für das MfS tätig waren und dies bisher nicht offen gelegt haben, sind aufgefordert, dies innerhalb von 8 Wochen gegenüber den Vorständen oder Gremien, in denen sie tätig sind, nachzuholen.
    Die Vorstände und Gremien sind nach Einzelfallprüfung verpflichtet, den betroffenen GenossInnen eine Empfehlung über einen Verbleib oder das Ausscheiden aus diesen Wahlfunktionen auszusprechen.
     
  11. Die Tatsachen und die Empfehlung werden den Versammlungen bzw. Delegiertenkonferenzen, die sie gewählt haben, mitgeteilt. FunktionsträgerInnen, die sich zu einer solchen Offenlegung aus persönlichen Motiven und in Verantwortung für andere nicht in der Lage sehen, scheiden innerhalb von 12 Wochen aus ihrer Wahlfunktion ohne Erklärung aus. Erweisen sich GenossInnen in dieser Frage als unehrlich, sind die Vorstände und Gremien verpflichtet, entsprechend Punkt 9 dieses Beschlusses zu verfahren.
      

III. Zur weiteren Auseinandersetzung:

  1. In Verantwortung des Landesvorstandes sind umgehend (Termin 31.08.1991) qualifiziert differenzierte Kriterien für die politische Bewertung der vielfältigen Arten der Tätigkeit für das MfS vorzulegen, die Hilfestellung bei der Einzelfallprüfung geben und zugleich dem Einzelnen bei seiner persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung sich zu orientieren helfen.
     
  2. Der Landesvorstand und die Bezirksvorstände fördern die Tätigkeit und vor allem die Außenwirkung von Arbeitsgruppen, die sich mit dem Problemkomplex »Staatssicherheit« auseinandersetzen. Die Publikation von Arbeitsergebnissen und Materialien für die politische Bildung sind in Kooperation mit der Fraktion im Abgeordnetenhaus materiell abzusichern.
     
  3. Neben der politisch-historischen Rekonstruktion der Tätigkeit des MfS und der Analyse seiner politischen und ideologischen Grundlagen ist der individuellen Beratung und Hilfe größere Aufmerksamkeit zu schenken. In Ergänzung zur kollektiven Auseinandersetzung in Arbeitskreisen sollten in den Bezirken Möglichkeiten für die individuelle Beratung, feinfühlige Lebenshilfe und Unterstützung in moralischer, sozialer und auch juristischer Art geschaffen werden.
     
  4. In den Bezirken und Wahlkreisen sind öffentliche Diskussionen mit interessierten Bürgern zu organisieren, wobei die Teilnahme anderer politischer Parteien und von Bürgerinitiativen anzustreben ist.