Standpunktpapier Tangentialverbindung Ost

1. Definition und Anlass

Die tangentiale Verbindung Ost (TVO) ist ein Verkehrsprojekt, das in Berlin mindestens seit den 1970er Jahren diskutiert wird. Meist wird darunter eine Straßenverbindung von Biesdorf in Fortsetzung der Märkischen Allee entlang dem Eisenbahn-Außenring bis zur Spindlersfelder Brücke in Köpenick verstanden. Der südliche Abschnitt der Straßenverbindung wurde 2013 in Betrieb genommen. Dabei handelt es sich um eine vierstreifige Stadtstraße. Folgend wird der in Planung befindliche Abschnitt zwischen Biesdorf und Wilhelm-Spindler-Brücke als Straßen-TVO bezeichnet. Die TVO ist in einer Reihe mit den autogerechten Stadtplanungen zu sehen, die spätestens seit den 1950er Jahren im Ost- und Westteil der Stadt vorangetrieben wurden: Autobahnen, Rückbau von Straßenbahnen, Aufteilung des Straßenraums zum Nachteil des Rad-, Fuß- und öffentlichen Verkehrs. Sie folgt auch jener biologistisch-techokratischen „Ästhetik“, die eine Stadt mittels Draufsicht mit Straßenzügen versehen möchte um ein „organisches“ Gebilde zu erschaffen, die in der Folge von Hans Bernhard Reichows Schrift „Die autogerechte Stadt“ entwickelt und propagiert wurde.

In den vergangenen Jahren unterlagen die unterschiedlichen Varianten einer intensiven Diskussion. In den Jahren unter Rot-Rot-Grüner bzw. Rot-Grün-Roter Landesregierung wurden Varianten diskutiert, die einen bloß zweistreifigen Ausbau der Straßen-TVO und zusätzlich eine parallel verlaufende Schienenverbindung (Nahverkehrstangente Ost, NVT bzw. Schienen-TVO) sowie einen gut ausgebauten Radweg vorsahen. Mit der Regierungsübernahme durch Schwarz-Rot im April 2023 wurde der Fokus wieder auf den vierstreifigen Ausbau für den Kraftverkehr gelegt, die Nahverkehrstangente Ost sowie der begleitende Radweg findet sich in der Koalitionsvereinbarung überhaupt nicht. Laut Aussagen der Landesregierung soll die Straßenplanung noch 2023 ins Planfeststellungsverfahren gehen. Aufgrund der schieren Dimension des Projektes mit einer Stadtstraße von autobahnähnlichem Zuschnitt hat der Bau der TVO nicht nur lokale Aspekte in den betroffenen Bezirken, sondern verkehrliche Auswirkungen bis weit ins Stadtgebiet hinein.

Im folgenden wird aufbauend auf unserem Positionspapier zur TVO von 2013 nochmals die fachliche Perspektive der LAG Mobilität und Verkehr (vorm. IG Nahverkehr) dargelegt, erweitert und mit Alternativen unterfüttert. Anlass für die Überarbeitung ist auch die durch die Besetzung eines Teils des zu rodenden Waldes durch Klimaaktivist*innen im Mai 2023. Hintergrund und Ursache für die Überarbeitung ist zudem die sich verschärfende Klimakrise sowie die programmatisch und landespolitisch in den vergangenen Jahren unternommenen Schritte in Richtung einer Verkehrswende.

 

2. Rahmenbedingungen

2.1 Klimapolitische Rahmenbedingungen

Im Jahr 2015 haben sich die Staaten der Welt auf eine Begrenzung der menschengemachten Erderwärmung möglichst unter 2 Grad geeinigt. Laut aktuellen Berichten des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change, Weltklimarat der Vereinten Nationen) liegt die derzeitige Erwärmung bei ca.1,2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter. Die Wissenschaft geht derzeit davon aus, dass ohne eine sofortige und massive Beschleunigung der Maßnahmen zum Erreichen von Klimaneutralität, also der Reduzierung der menschengemachten CO2-Emissionen auf Null, in absehbarer Zeit sogenannte Kipppunkte erreicht werden, nach deren Überschreiten zusätzliche Mechanismen eine immer stärkere Aufheizung der Atmosphäre erwarten lassen.

Die Auswirkungen der Klimakrise erreichen inzwischen auch Berlin und sein Umland, wo immer höhere Temperaturen im Sommer herrschen und ein erheblicher Mangel an Niederschlägen Natur und Wasserversorgung bereits seit einigen Jahren in Mitleidenschaft ziehen.

2.2 Landespolitische Rahmenbedingungen

Mit der Übernahme der Landesregierung durch eine Mitte-Links-Koalition 2016 wurden erste Versuche einer Verkehrswende eingeleitet. Ein Mobilitätsgesetz, welches die Förderung des Umweltverbunds in den Vordergrund rückt, wurde verabschiedet und mit der Planung und Umsetzung weiterer Straßenbahn- und Eisenbahnstrecken sowie eines Radverkehrsnetzes begonnen. Im Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr (StEP MoVe) wurde das Ziel, den Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) am Verkehrsgeschehen auf 18 Prozent zu senken, festgeschrieben. Der derzeitige Entwurf des Berliner Energie- und Klimaschutzkonzepts (BEK 2030) strebt an, dass die CO2-Emissionen im Verkehrssektor bis 2030 gegenüber 2019 ungefähr halbiert werden sollen, nachdem der Verkehr seit 1990 der einzige Sektor war, in dem der Ausstoß von CO2 angestiegen ist.

Obwohl die Inhalte der Planwerke deutlich hinter den verkehrs-, klima- und sozialpolitischen Notwendigkeiten zurückbleiben und die Umsetzung in weiten Teilen bislang kaum vorangekommen ist, ist zumindest erkennbar, dass ein Umsteuern angestrebt wurde.

Trotz dieser vorsichtig positiven Entwicklung wurde auch unter Rot-Rot-Grün bzw. Rot-Grün-Rot an der Planung weiterer Straßenverbindungen festgehalten. Neben der Straßen-TVO ist hier z.B. die Südostverbindung (SOV) zu nennen. Auch die Umsetzung früherer Festlegungen, z.B. die Verkleinerung des Adlergestells im Zuge der Eröffnung der Autobahn A113 zum Flughafen Schönefeld bzw. Berlin-Brandenburg, wurde nicht weiterverfolgt und erst umgesetzt, als das Mobilitätsgesetz dort einen Radweg vorschrieb. So wurde das Autofahren weiterhin planerisch privilegiert.

Mit der Übernahme der Landesregierung durch eine CDU-SPD-Koalition im April 2023 werden die Bemühungen um eine Verkehrswende massiv zurückgefahren: Straßenbahnstrecken werden zur Disposition gestellt, der Ausbau des Radverkehrsnetzes auf den Hauptstraßen gestoppt und dringend benötigte Ressourcen in U-Bahn-Projekten für die ferne Zukunft gebunden. Die Straßen-TVO wird derzeit wieder als vierstreifige, autobahnähnliche Straßenverbindung diskutiert, begleitende Schienen- und Fahrradwege fehlen in der Koalitionsvereinbarung. Die neue Koalition strebt an, diese Planungen noch 2023 ins Planfeststellungsverfahren zu geben und noch vor Ende der Legislaturperiode mit dem Bau zu beginnen.

3. Bewertung der Straßen-TVO

Bereits im Standpunkt von 2013 wurde die Verfolgung der TVO seitens der IG Nahverkehr als problematisch angesehen. Dies folgte auch der durch ausführliche empirische verkehrswissenschaftliche Untersuchungen belegten Tatsache, dass mehr Straßenkapazität stets auch mehr Kraftverkehr erzeugt und die Effizienzgewinne innerhalb weniger Jahren aufgefressen werden. Die während Planung und Bau der A113 als Begründung angeführte und propagierte Entlastung des Straßenzugs Köpenicker Landstraße – Adlergestell ist – wie von Kritikern vorhergesagt – nicht oder nur kurzzeitig und minimal eingetreten. Stattdessen hat der Querverkehr der Zubringerstraßen (Baumschulenstraße, Johannisthaler Chaussee, Sterndamm, Rudower Chaussee selbst bei flüssigem Verkehr stark zugenommen. Dazu kommt bei Stau auf der A113 der Ausweichverkehr über die Zubringerstraßen und parallel verlaufende Straßen. Gleiches wird mit der TVO und den vorhandenen Querverbindungen passieren und den Ruf nach weiteren Zubringerstraßen auslösen. Von der TVO eine spürbare Entlastung der heutigen Straßen zu erhoffen, ist eine Illusion.

Selbst bei optimistischer Betrachtung ist nicht vor 2032 mit einer Inbetriebnahme der TVO zu rechnen. Dies ist der Zeitpunkt, zu dem eine erhebliche Reduktion des Kraftverkehrs bereits erreicht sein sollte (gemäß StEP MoVe auf 18 Prozent am Modal Split, gemäß unserem Programm auf 14 Prozent am Modal Split).  Eine große Straßenverbindung mit verkehrsinduzierender Wirkung bis weit in das Stadtgebiet und über die Landesgrenze hinaus, wie die TVO sie darstellt, steht diesen Zielstellungen entgegen. Die TVO ist daher bestenfalls in diesem Sinne als überflüssig anzusehen, schlechtestenfalls als dem Ziel und den Notwendigkeiten entgegenstehend.

Durch den Bau der Straßen-TVO in der momentan anzunehmenden Variante mit zwei Fahrstreifen je Richtung würden zudem mehrere Dutzend Hektar Wald bzw. Kiefernforst gerodet. Zwar würde auch beim Bau einer Bahnstrecke und einer Radverkehrsanlage Wald fallen und eine – allerdings deutlich kleinere – Fläche versiegelt werden, jedoch wäre dies in der Abwägung hinnehmbar und auch leichter auszugleichen. Die Neuversiegelung durch die Straßenverbindung ist um ein Vielfaches höher. Da Berlin nicht mehr über viele Flächen für Ausgleichsmaßnahmen verfügt, werden die Versiegelungen voraussichtlich hauptsächlich finanziell ausgeglichen und die Gelder in den Waldumbau fließen, aber es wird kein einziger Quadratmeter neuer Wald entstehen. In unserem Wahlprogramm 2021 setzen wir uns für eine Netto-Null-Versiegelung ab 2030 in Berlin ein.

Die Kosten für die Straßenverbindung dürften sich auf mindestens 500 Mio. Euro belaufen, von denen 275 Mio. durch das Land aufzubringen wären. Von dieser Summe ließen sich die von uns unten vorgeschlagenen Verkehrswege zur Erschließung und Transitfunktion sowie weitere Verkehrswendeprojekte bezahlen. Das Geld fehlt ebenso bei den immer wichtiger werdenden Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen und den massiven Investitionen, die in diesem Bereich zu tätigen sind. Mit einer vorrangigen Verwirklichung der Straßen-TVO dürfte sich zudem das Nutzen-Kosten-Verhältnis der späteren parallelen Schienenverbindung durch erhebliche Kostensteigerungen derart verschlechtern, dass eine Bundesförderung schwer zu erreichen sein wird.

4. Konkrete Alternativen zur Straßen-TVO

Die TVO soll vor allem der Abwicklung des tangentialen Pendelverkehrs dienen samt den jeweils Richtung Brandenburg weiterführenden Autobahnen A113 und A117 im Süden sowie der Bundesstraße B158 im Norden.

Die Ortsteile Neu-Hohenschönhausen (60.000 Einwohner), Marzahn (110.000 Einwohner), Biesdorf (30.000 Einwohner), Köpenick (60.000 Einwohner), Adlershof (20.000 Einwohner) und weitere kleine Ortsteile, die nur umständlich mit Buslinien verbunden sind, brauchen eine leistungsfähige Verkehrsverbindung untereinander sowie mit den Arbeitsstätten (in Köpenick, Adlershof und am Flughafen BER), Freizeiteinrichtungen (Freizeit- und Erholungszentrum Wuhlheide, Bundesligastadion des 1. FC Union) und Ausflugszielen (Grünau, Müggelsee).

Zur zentralen Achse dieser Verkehrsverbindung, zum Rückgrat des Korridors, muss die Nahverkehrstangente Ost (NVT Ost) vom Karower Kreuz am Außenring entlang bis Grünau entwickelt werden, und zwar als Eisenbahnstrecke mit Wechselstrom und Oberleitung. Auf ihr sollen mindestens im 15-min-Takt Regio-S-Bahnen (Regionalbahnen mit S-Bahn-Standard) verkehren, die im Norden abwechselnd weiter bis Oranienburg, Bernau – Eberswalde, im Süden abwechselnd weiter bis Königs Wusterhausen (mit jeweils 40.000 bis 50.000 Einwohnern) und zum Flughafen BER fahren und den Hauptverkehrsstrom in diesem Korridor gebündelt bewältigen.

Dazu ist die vorhandene Eisenbahnstrecke, die auch bedeutenden Durchgangs-Güterverkehr aufnimmt, weitgehend viergleisig und behinderungsarm mit Trennung Regionalverkehr / Güterverkehr auszubauen und sind neue Verkehrsstationen zu errichten. Durch Verknüpfung mit den kreuzenden radialen S-Bahn-Strecken (Karower Kreuz, Springpfuhl, Biesdorfer Kreuz, Kreuz Wuhlheide, Spindlersfeld, Grünau), mit der U-Bahn (Biesdorf Süd), mit der Straßenbahn (Hohenschönhausen, Springpfuhl, Eichgestell / An der Wuhlheide, Spindlersfeld) sollen Umsteigeverbindungen zu zahlreichen weiteren Zielen hergestellt werden, auf kürzeren und schnelleren Wegen als bisher. Zur Erschließung der Siedlungsgebiete Biesdorf Süd und Kaulsdorf Süd ist eine weitere Verkehrsstation in Biesenhorst und zur Erschließung der Köllnischen Vorstadt und des Ost-Adlershofer Industrie- und Gewerbegebiets eine an der Glienicker Straße erforderlich. An den neuen Stationen müssen kurze Umsteigewege zum Bus-, Rad- und Fußverkehr hergestellt werden. Lokale Buslinien sind als Zubringer zu den neuen Stationen an der NVT Ost und an den verknüpften Radialstrecken einzurichten.

Ergänzend zur Eisenbahnstrecke ist am östlichen Rand des Korridors eine leistungsfähige äußere Straßenbahntangente zu schaffen, die mindestens im 10-min-Takt befahren wird, Marzahn, Hellersdorf, Mahlsdorf und Köpenick verbindet, sowie Mahlsdorf Nord und Süd kleinteilig erschließt. In der Lücke zwischen Hellersdorf und Mahlsdorf ist eine Strecke neu zu bauen, vom Bahnhof Mahlsdorf bis Hubertus das zweite Gleis zu verlegen. Auf der gesamten Strecke muss die Straßenbahn absoluten Vorrang bekommen und müssen ihre Gleise vom Kfz-Verkehr befreit werden (Hönower Straße Mahlsdorf, Bahnhofstraße Köpenick). Durch gute Verknüpfung mit U-Bahn, S-Bahn und Regionalbahn in Hellersdorf, Mahlsdorf und Köpenick entstehen vertretbare Umsteigeverbindungen zu Zielen an den Radialstrecken.

Die vorhandene innere Straßenbahntangente Hohenschönhausen – Friedrichsfelde – Karlshorst – Schöneweide ist durch absoluten Vorrang für die Straßenbahn und konsequente Befreiung der Straßenbahngleise vom Kfz-Verkehr (Bahnhof Karlshorst, Edisonstraße) schneller und zuverlässiger zu gestalten; für den Einsatz längerer Straßenbahnfahrzeuge wird sie derzeit vorbereitet.

All diese Maßnahmen ermöglichen den im Korridor Wohnenden und den ins Brandenburger Umland Pendelnden schnellere, bequemere Fahrten ohne Autozwang und tragen damit zur Entlastung der stauanfälligen Straßen bei, ohne dass eine weitere Straße gebaut werden muss. Zumindest kann in vielen Fällen die nächste Verkehrsstation mit dem Fahrrad erreicht oder die Autonutzung auf die Kurzstrecke bis zur nächsten Verkehrsstation begrenzt und der Transit durch den Korridor auf Schienen bewältigt werden.

Als zusätzliche, kostengünstige Maßnahmen sollten tangentiale und radiale Rad(schnell)verbindungen gebaut werden, z.B. parallel zur Bahnstrecke zwischen dem Karower Kreuz und Grünau. Zur Verhinderung des Durchgangsverkehrs durch Biesdorf entlang der Köpenicker Straße bieten sich einfache und kostengünstige Maßnahmen wie Poller oder gegenläufige Einbahnstraßen an, um einerseits die Erreichbarkeit aller Stellen in Biesdorf mit dem Auto weiterhin zu gewährleisten und andererseits den Transitverkehr zu unterbinden.

5. Fazit

Die Straßen-TVO ist in Zeiten der Klimakrise und der notwendigen Verkehrswende nicht mehr tragbar. Sie erzeugt mehr Autoverkehr, mehr Flächenversiegelung und bindet finanzielle, planerische und Baukapazitäten, die dringender an anderer Stelle gebraucht werden. Die Erschließungsfunktion der Straße wird mit den oben geschilderten Maßnahmen klimafreundlich und sozial gerecht hergestellt und der Durchgangsverkehr durch Biesdorf lässt sich durch kostengünstige Maßnahmen deutlich einfacher reduzieren. Diese Vorschläge, ergänzt durch eine oder mehrere Radverkehrstangenten gepaart mit Durchfahrtsbeschränkungen für den Kraftverkehr durch Biesdorf sind deswegen vorrangig zu verfolgen und planerisch so zu beschleunigen, sodass sie vor Mitte der 2030er Jahre bereitstehen.Von daher ist der Bau auch einer reduzierten Straßenverbindung weder verkehrlich sinnvoll noch klimapolitisch tragbar und somit nicht mehr zeitgemäß. Deswegen ist sie aus fachlichen Gründen abzulehnen.

 

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