Wissensfreiheit in Russland erhalten - Welche entscheidende Rolle Creative Commons dabei spielen!
Angesichts der scharfen Regulierungen der Medienlandschaft in Russland erscheint es überraschend, dass die Verfügbarkeit der Wikipedia in Russland bisher kaum eingeschränkt ist und auch in russischsprachigen Wikipedia-Artikeln weitgehend objektiv Ereignisse im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wiedergegeben sind.
Mit Dimitar Dimitrov, Leiter des Wikimedia-Büros in Brüssel, sprachen wir über Erfahrungen mit der Wikipedia in der Gegenwart von autoritären Systemen und Regionen eingeschränkter Internetverfügbarkeit, um besser zu verstehen, wie sich die Lage in Russland erklärt und welche Chancen und Risiken mit Blick auf die Erhaltung des freien Wissenszugangs über Wikipedia bestehen.
Es scheint, als genieße Wikipedia auch in Russland ein Vertrauen, das die Sperrung der Site selbst für ein autoritäres System schwierig vermittelbar macht, zumal Wikipedia auch für den Zugang zu nicht-politischem Wissen eine erhebliche Relevanz in Russland aufweist. Sicher ist derzeit nichts, doch wir vermuten, dass der Charakter als nichtkommerzielle FOSS-Plattform, bestehend aus Creative Commons-Inhalten die von etlichen Autoren dezentral generiert werden, eine Grundlage dafür ist, dass Wikipedia nicht pauschal als "westlich-gesteuert" etc. abgetan werden kann. Schwierig ist es zudem, die Wikipedia mit Troll-Armeen etc. gezielt zu manipulieren, schlicht weil es zuviele andere Autor*innen gibt, denen derartige Aktivitäten potentiell auffallen und Maßnahmen ergreifen. Auch einen russischen Wikipedia-Klon innerhalb eines isolierten Internets ("RuNet") zu betreiben, erscheint wenig praktikabel, weil dazu mit viel Aufwand eine neue, politisch gesteuerte Autoren-Community aufgebaut und am Leben gehalten werden müsste. Selbst wenn ein RuNet vorangetrieben werden sollte oder der Zugriff auf die Seiten anderweitig technisch erschwert würde, spielt die nichtkapitalistische Organisationsform Wikipedias Stärken aus: Dank schlanker Software, keiner Werbung, kaum vorhandenem Tracking und ressourcensparender Medien (Text, Bilder) lässt sich Wikipedia vergleichsweise datensparsam und auch bei schlechten Verbindungen noch sinnvoll nutzen. Und schließĺich: Wikipedia ist aufgrund des Prinzips des community-generierten und -kontrollierten Gemeinguts praktisch nicht käuflich, russische Politiker und Oligarchen würden sich ebenso wie ein Elon Musk die Zähne ausbeißen!
Somit besteht Hoffnung, dass Wikipedia auch weiterhin in Russland und anderen autoritär geprägten Gegenden einen zuverlässig erreichbaren, weitgehend objektiven Wissenszugang darstellt! Einmal mehr fordern wir ein radikales Umdenken überall dort im Internet, wo wir es leider bisher nicht mit Gemeingut und Teilhabe zu tun haben, sondern mit kapitalistischen Internetkonzernen. Dafür gibt es keine Zeit mehr zu verlieren!
P.S. Letztlich hängt die Wissensfreiheit Wikipedias auch von der Gewährleistung der Selbstbestimmtheit des Wikimedia Vereins ab. Dimitri wies in diesem Zusammenhang auf ein aktuelles Problem mit dem an sich gut gemeinten DigitialServicesAct hin: Enthalten sind in dem Act Content-Moderationsregeln, vor allem im Rahmen eines in letzter Minute eingefügten "crisis mechanism". Dieser befugt die EU-Kommission (!) zu weitreichenden content-bezogenen Anordnungen auch an Wikimedia gerichtet, was dem Prinzip der Nichteinmischung Wikimedias in die Inhalte der Wikipedia grundsätzlich zuwiderläuft und in dieser exekutiven Qualität ein potentielles Risiko für die Wissensfreiheit darstellt. Ein Blog-Beitrag von Dimitri dazu hier.