Redebeitrag von Sonja Kemnitz auf dem Parteitag in Erfurt am 24.-26. Juni

Pflegearbeit und Lohnersatzleistungen für unsichtbare Sorgearbeit

Liebe Genossinnen und Genossen,

Wir wollen sozial gerechte Politik für die Menschen machen. Erfolgreich werden wir aber nur, wenn wir Politik MIT den Menschen machen. Wenn es uns gelingt, Menschen zu ermutigen, sich selbst zu vertreten, in den Konflikt mit dem Arbeitgeber oder der Krankenkasse zu gehen und sie dabei fachlich unterstützen. Viele Menschen sind mit den aktuellen Zuständen unzufrieden. Aber sie wissen nicht, was tun und wer hilft. Diese Adresse muss DIE LINKE wieder werden, in jedem Ort, in jedem Kiez und für alle Altersgruppen.

Dabei dürfen wir nicht vergessen – vor allem die jungen Genoss*innen – dass es große Gruppen gibt, die nur eingeschränkt für sich selbst kämpfen können, selbst wenn sie in einer Gewerkschaft sind. Das sind viele Senior*innen, Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Saisonarbeiter*innen und andere. Oft fehlen überhaupt gute rechtliche Bedingungen für eine entscheidungswirksame Interessenvertretung. Bestehende Gremien sind viel zu oft ohnmächtig oder scheitern an der bürokratischen Macht der Exekutive. Übrigens ein Thema, mit der sich DIE LINKE strategisch viel stärker befassen sollte.

Zu dieser von politischen Entscheidungen ausgeschlossenen Gruppe gehören die fast 5 Millionen pflegenden Angehörigen und Zugehörigen. Sie werden leider auch in der LINKE politisch kaum gesehen: dabei sind sie als wachsende „sozialstaatliche Reservearmee“ die tragende Säule des deutschen Pflegesystems. Das hat die Corona-Pandemie erschreckend offenbart. Die Pflegefamilien wurden nicht nur allein gelassen. Ihnen wurde noch mehr Verantwortung aufgehalst. Und damit Sorgearbeit weiter privatisiert!

Diese Menschen leisten Sorgearbeit, oft unbemerkt und ohne Anerkennung, 7 Tage in der Woche. Sie tun es oft aus Verbundenheit und auch mit Freude, aber zunehmend auch gezwungenermaßen: es fehlen professionelle öffentliche Pflegeangebote, private Angebote sind nicht bezahlbar oder sind nur am Rande der Legalität möglich. Mehr als 70% von ihnen sind Frauen. Zuerst reduzieren sie ihre Arbeitszeit, dann geben sie den Job auf. Sie erkranken häufig selbst und verlieren soziale Kontakte. Doch der Kern ihrer Ausbeutung: sie arbeiten unbezahlt und nicht nur das. Selbst wenn sie im Job bleiben, sinken mit ihrer Arbeitszeit auch die Gehälter und damit die Rentenansprüche. Angehörigenpflege führt direkt in die Altersarmut. Materielle Armut und soziale Isolation sind unheilvoll verbunden. Und nicht zu vergessen: viele pflegende Angehörige sind Senior*innen im Rentenalter. Sie werden von sozialer Teilhabe ausgeschlossen, weil sie einfach zu wenig Zeit für sich selbst oder für politische Arbeit haben, denn professionelle, bezahlbare Pflegeangebote fehlen.

Deshalb muss DIE LINKE auch für eine Lohnersatzleistung in der Pflege kämpfen, wie es sie als Elterngeld für junge Familien schon gibt. Nicht weil informelle Familienpflege professionelle Pflege ersetzen soll. Sondern weil sie immer dazugehört – aber niemand dadurch verarmen darf. Nicht weil professionelle Pflegekräfte draußen bleiben sollen, sondern ein Mix aus guter fachlicher und Laienpflege die Lebensqualität entscheidend prägt.

Als LINKE dürfen wir nicht zulassen, dass Sorgearbeit Menschen in die Armut führt. Solange und weil der kapitalistische Staat nicht in der Lage und bereit ist – pflegerische Sorgearbeit gesamtgesellschaftlich zu organisieren, muss er zumindest und zunächst gezwungen werden, häusliche Pflege als Arbeit anzuerkennen und die Verluste auszugleichen, die pflegende Angehörige hinnehmen müssen. Das stärkt sogar unsere Forderung nach deutlich mehr Pflegekräften und professionellen Angeboten. Denn: Linke Pflegepolitik hat alle Säulen der Pflege im Blick und spielt nicht professionelle und Laienpflege gegeneinander aus. Die Menschen brauchen breite Bündnisse, in denen sich Menschen mit Pflegebedarf, Pflegekräfte und pflegende Angehörige gemeinsam füreinander einsetzen.

Wir dürfen diese Menschen nicht den Rechten überlassen. Die AfD setzt das Thema ultrakonservativ mit einem pauschalen, lächerlich kleinen Pflegegeld. Ich nenne das Herdprämie 2.0. Einen Lohnersatz zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf lehnen sie dagegen ab. Die CDU hat die Forderung unserer Bundestagsfraktion für höhere Rentenansprüche pflegender Angehöriger für ihr Wahlprogramm geklaut. Auch die SPD will Lohnersatz wie viele Sozialverbände und der DGB. Hier sind breite Bündnisse, also Erfolg möglich! Doch ohne diese Bündnisse wird die Forderung nicht erfüllt! Zugleich eröffnet sich eine Grundsatzdebatte darüber, wie DIE LINKE Arbeit über Lohnarbeit hinaus – die wir doch abschaffen wollen - versteht.

Unsere Solidarität muss auch zwischen den Generationen unteilbar sein! Und zu einer klaren Vision für ältere Menschen gehören neben menschenwürdiger Rente auch seniorengerechte Wohnungen, ein barrierefreier ÖPNV und eine gute Gesundheitsversorgung und Pflege. Wir sollten sie ermutigen, ihre Stimme zu erheben, öffentlich zu werden und ihnen dafür Bedingungen schaffen. Gerade Menschen mit wenig Zeit und Kraft müssen in der Partei stützende Strukturen zur Selbstvertretung finden. Ob als junge Eltern oder pflegende Angehörige. Denn es geht auch darum, die zu stärken, die noch nicht kämpfen können, ihnen zu zeigen: wir sehen Euch und stehen an Eurer Seite.

Ältere Menschen, Menschen mit Pflegebedarf und mit Behinderungen, pflegende Angehörige, 24-Stunden-Betreuungskräfte und Assistenzkräfte gehören auf unsere Agenda. Unser Angebot heißt: Solidarische Gesundheits- und Pflegevollversicherung. DIE LINKE gestaltet als einzige das Prinzip der Bürgerversicherung konsequent solidarisch und verknüpft es ZUGLEICH in der Pflege mit dem Ziel Vollversicherung. Wir sind die einzige Partei, die Inklusion nicht als technische Maßnahme und politische Phrase versteht, sondern es ernst meint mit selbstbestimmter Teilhabe für jede und jeden.

Auch das ist eine strategische Frage. Die BAG Senior*innen unterstützt deshalb den Satzungsvorschlag, die inhaltliche Verantwortung der BAGen zu schärfen und wird konzeptionelle Vorschläge unterbreiten. Dabei gehen wir davon aus, dass Seniorenpolitik, Behindertenpolitik sowie Gesundheits- und Pflegepolitik in unserer Partei enger zusammengehören.